Jürgen Meier: Wöbkenbrot und Pinselstrich

„If studying history always makes you feel proud and happy, you probably aren’t studying history“, hat eine Gruppe von Bibliothekar*innen vergangenes Jahr getwittert, als überall auf der Welt Diskussionen über den Umgang mit Denkmälern zu Ehren problematischer historischer Persönlichkeiten entbrannten. Tatsächlich bringt der schonungslose Blick in die Vergangenheit oft viele unerfreuliche Fakten ans Tageslicht, sogar in der eigenen Familiengeschichte. Wie sich im Deutschland des vergangenen Jahrhunderts aus Vaterlandsstolz und Kaisertreue erst Kriegslust und schließlich nationalsozialistischer Judenhass entwickeln konnten, illustriert der Hildesheimer Autor Jürgen Meier in seinem intimen Mehrfamilienportrait Wöbkenbrot und Pinselstrich. Das Buch ist im Juli beim Mirabilis Verlag erschienen.

Mit großen Erwartungen beginnt Johannes Becker im Jahr 1910 ein Ingenieursstudium in Chemnitz. Eher zufällig gerät der glühende Bismarck-Verehrer an die Kunsthandwerksstudentin Hulda, deren Familie der SPD nahesteht. Nach einer kurzen Liaison gebiert sie ihm einen Sohn, informiert ihn aber nur widerwillig darüber, da sie sich wegen seiner immer radikaler werdenden Gesinnung keine gemeinsame Zukunft wünscht. Sie sagt dann aber doch zu, als er, beseelt von Deutschlands Kriegserklärung gegen Frankreich, um ihre Hand anhält – in der stillen Hoffnung, bald als Witwe eines gefallenen Soldaten eine gute Rente zu beziehen. Zu beider Enttäuschung wird Johannes der Dienst an der Front jedoch verwehrt, da er als Ingenieur für die Entwicklung der deutschen Kriegsmaschinerie benötigt wird. Dies tut er dann auch mit großem Eifer und ohne Rücksicht auf seine Gesundheit. Nach Kriegsende gründet er zusammen mit seinem Studienfreund Hans Lasch eine Firma für Rohrleitungsbau und legt damit den Grundstein für den finanziellen Wohlstand seiner Familie. Wenig später bringt Hulda eine Tochter zur Welt, die sie in Hoffnung auf friedvollere Zeiten nach einer pazifistischen Romanheldin Ingeborg nennt. Doch dann tritt Johannes der NSDAP bei – vorgeblich aus geschäftlichen Gründen, in Wahrheit aber aufgrund ideologischer Sympathien – und tauscht sich mit ihrem mittlerweile erwachsenen Sohn über Rassenkunde aus. Als sie dann auch noch bei der heranwachsenden Ingeborg ähnliche Tendenzen bemerkt, verliert Hulda ihren Lebensmut; sie stirbt, drei Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933.
Ähnlich tief sind die Gräben, die die Familie Meyer im ostwestfälischen Dörfchen Mennighüffen durchziehen. Hier bringt im Februar 1919 Johanna Meyer einen Sohn zur Welt, den sie aus einem großen Friedenswunsche heraus Gottfried nennt. Ihre Abneigung gegen den Krieg und alles Militärische kann ihr Mann Karl indes so gar nicht verstehen, und das, obwohl er mit einer schweren Lungenverletzung aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist. Er stellt sicher, dass alle seine Kinder zu Patrioten heranwachsen. Als sich Armut und Arbeitslosigkeit auf dem Land breitmachen, schürt auch er den Unmut gegen jene, die angeblich für den verlorenen Krieg verantwortlich seien: die Juden. Von diesen Ressentiments lässt sich schließlich auch Gottfried anstecken: Er lässt ab von seinem Vorhaben, Pastor zu werden, entbrennt heftig für die nationalsozialistische Ideologie und findet Anstellung in einer Sparkasse, wo er für die Beschlagnahmung jüdischer Konten zuständig ist. Später zieht er in den Krieg, wird jedoch früh bei einem Lufteinsatz verwundet.
Die beiden Familiengeschichten kreuzen sich im Juni 1940, als Gottfried, dessen Heimaturlaub aufgrund seiner immer wieder aufreißenden Beinwunde verlängert wird, in einem Gasthof der nun erwachsenen Ingeborg Becker begegnet, die bei einem Zigarrenfabrikanten in der Nähe ihr Pflichtjahr als Hausmädchen absolviert. Sie heiraten wenig später – und Gottfried zieht erneut in den Krieg, wird verwundet, gerät in Gefangenschaft, kehrt als Krüppel und Kriegsverlierer nach Hause zurück. Doch nichts davon erschüttert ihn in seiner Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen …
Jürgen Meier, der zuvor als PR-Werbechef am Stadttheater Hildesheim und der von ihm gegründeten Werbeagentur Aickele & Meier tätig war, legt seit 1997 als selbstständiger Autor und Journalist regelmäßig Dokumentarfilme (u.a. für NDR und MDR), Buchveröffentlichungen, Radioserien und Theaterstücke vor. Mit Wöbkenbrot und Pinselstrich hat er eine detailreiche Familienchronik geschrieben, die den individuellen Verstrickungen ins Zeitgeschehen des vergangenen Jahrhunderts nachspürt – und ihren Ausläufern in die Gegenwart. Denn Gottfrieds und Ingeborgs Sohn Georg, der im Zuge der Studentenbewegung von 1968 mit seiner Familie bricht, gelingt es schließlich, sich vom Muff der Vergangenheit zu befreien …

● Anja Dolatta

Wöbkenbrot und Pinselstrich
Von Jürgen Meier
Mirabilis Verlag
344 Seiten
24 Euro


Schlagwörter:

Diesen Beitrag kommentieren

Stadtkind twittert