Staatsoper Hannover: Am Küchentisch mit Filippo Ferrari

©Aszure Barton

Seit der Spielzeit 2023/24 ist Filippo Ferrari das jüngste Mitglied der Compagnie der Staatsoper Hannover. Der Italiener war als Eleve allerdings bereits in der vergangenen Saison im Haus zugegen und erweiterte seine klassische Grundausbildung, die er in der Provinz Modena am Centro Studio Danza begonnen hat. Vorher führte ihn diese durch zwei junge Compagnien in Italien und dank zahlreicher Praktika und Intensiv-Workshops auch durch ganz Europa. Aktuell bereitet er sich mit der Compagnie auf Marco Goeckes „A Wilde Story“ und die im Januar folgende Premiere von „Du bist so schön“ vor.

Wie würdest du jemandem deinen Stil beschreiben, der dich noch nie tanzen gesehen hat?
Okay, so fangen wir also an (lacht). Ich würde sagen, dass ich ein tiefgründiger undgrooviger Tänzer bin. Wenn wir meinen Stil mit Musik vergleichen, wäre es ein bisschen der Groove von Michael Jackson und ein wenig Rock’n’Roll dazu. Ich liebe Kontraste. Ich mag es zum Beispiel, super smoothe und klare Bewegungen auszuführen, bin aber zu hundert Prozent eher der emotionale als der technische Tänzer. Ich liebe das Drama. Und ich zeige meinen Stil beispielsweise, wenn wir improvisieren und ich viel von mir selbst ausdrücken kann. Wenn wir Repertoire von Choreografinnen oder Choreografen lernen, versuche ich, meine eigene Vision vom Tanzen zu behalten und sie in deren Stil hineinzupacken.

Wann und wie hast du angefangen zu tanzen? Sicherlich bist du nicht einfach eines Tages aufgewacht und wusstest, dass du dein Leben dem Tanzen widmen willst.
Nein, eigentlich ist es die Schuld meiner Mutter (lacht). Ich sage Schuld, weil ich mit Hip-Hop und Break Dance angefangen habe, als ich sechs Jahre alt war, und erst zehn Jahre später mit Contemporary und Ballett. Ich weiß noch, wie ich im Auto saß und sie sagte: „Fili, willst du Ballett machen?“ Und ich sagte: „Nein, Mama, passt schon.“ Ich bin in einer kleinen Stadt geboren, deswegen hatte ich ein bisschen Angst davor. Ich erinnere mich noch an den ersten Tag in der Ballettschule, ich war der einzige Mann dort. Und als ich die Tür öffnete, sah ich all diese Ladies und Mädchen mit Ballettschuhen, super süß, und mich mit dem Kapuzenpulli und der Cap, super Hip-Hop. Das war ein bisschen Drama an dem Tag. Aber ich habe trotzdem weitergemacht und probiert und jetzt sage ich manchmal zu meiner Mutter: „Es ist zwar deine Schuld, aber das nächste Mal musst du es früher machen“ (lacht).

Was fandest du so toll am Tanzen?
Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, warum. Ich habe getanzt, seit ich klein war. Ich erinnere mich, dass ich immer mit meiner Mutter auf dem Bett getanzt habe. Eines Tages habe ich dann gesagt, dass ich es ausprobieren möchte. Ich hatte mich in den Film „Step Up“ verliebt (lacht). Das einzige, womit ich ein bisschen gehadert habe, war, mich zwischen der Musik und dem Tanzen zu entscheiden. Ich war Schlagzeuger und ich liebe die Musik. Aber ich bin glücklich, dass ich das Tanzen gewählt habe. Musik kann ich immer noch später machen, wenn ich 35 oder 50 oder so bin, tanzen nicht (lacht).

Filippo Ferrari, Foto: Dan Hannen

Kannst du mir einen kurzen Überblick über dein bisheriges Leben geben und über die Stationen, die dich hierher an die Staatsoper Hannover gebracht haben?
Ja und das geht wirklich schnell. Ich bin erst letztes Jahr hierhergekommen und es ist meine zweite Saison. Mit 16 habe ich im Vergleich zu meinen Kollegen und Kolleginnen sehr spät angefangen, Ballett und Contemporary zu tanzen. In Italien habe ich dann irgendwann in zwei jungen Compagnien getanzt. Eine davon war auf Sizilien, die andere hieß „Balletto di Parma“ und war in Emilia-Romagna. Ich habe meinen ersten Wettbewerb auch erst mit 16 oder 17 Jahren gemacht. Ich fing erst wirklich an, diese Welt zu schätzen, nachdem ich eine Choreografie von Marco Goecke gesehen hatte, „Midnight Raga“. Ich weiß noch, wie ich dachte „Oh mein Gott, was zur Hölle? Das ist wunderschön! Ich will das machen!“ Danach habe ich angefangen, diese Welt mehr zu entdecken. In der letzten Saison habe ich Marco getroffen und war zum ersten Mal hier für mein Vortanzen. Ich hatte ein bisschen Angst (lacht) und natürlich war ich aufgeregt. Aber es lief wirklich gut. Ich hatte zwei Jahre davor an einem Wettbewerb teilgenommen und ein Kontakt von Marco hatte mich dort gesehen und ihm von mir erzählt. Und danach hat Marco mir eine Nachricht geschickt, auf Instagram glaube ich, und ich dachte: „Oh mein Gott, Marco Goecke hat mir geschrieben. Was passiert hier?“ Aber wir waren uns damals einig, dass ich mit 17 noch zu jung war, um mit ihm zu arbeiten. Also fragte ich ihn mit 19, ob ich vortanzen könne. Und er sagte ja und hat mich für den kommenden Samstag zur Audition eingeladen. Das Problem war nur, dass er mir das am Donnerstag derselben Woche sagte. Das war wirklich lustig, mit dem Flug und so. Okay, heute ist es wirklich lustig – in dem Moment war es gleichzeitig beängstigend und aufregend. Ich erinnere mich an den Tag, als wäre es gestern gewesen, einer der besten Tage in meinem Leben. Eine seiner Choreografien, „Wir sagen uns Dunkles“, allein vor ihm im Studio zu tanzen, das war verrückt und wunderschön. Ansonsten habe ich, bevor ich hierher kam, viele Praktika absolviert, und für anderthalb Monate in Dortmund am Summer-Intensive teilgenommen. Ich bin ein bisschen durch Europa gereist, um mir einen Eindruck von dieser Welt zu verschaffen, und habe danach beschlossen, dass ich das hier beruflich machen will. Das Reisen hat mir viel geholfen, weil ich so spät mit Ballett angefangen und deswegen keine klassische Ausbildung habe, so wie viele meiner Kolleg*innen. Noch heute entdecke ich manchmal Dinge, bei denen ich sie um Hilfe bitte. Und außerdem bin ich eh der Jüngste, also das Kind hier, und sie geben mir alle Ratschläge. „Fili, mach vielleicht das …“ Ich versuche, sie alle zu beherzigen, weil ich wirklich wunderbare Kolleg*innen habe, die mir schon sehr geholfen haben, mich weiterzuentwickeln.

Vermisst du, jetzt, da du in Deutschland lebst, „la dolce vita“?
Das Einzige, was ich vermisse, ist der Sonntag wie in Italien (lacht). Hier ist alles geschlossen, aber das ist mehr oder weniger der einzige freie Tag, den wir haben. An anderen Tagen auszugehen ist oft schwierig. Jetzt gerade ist es cool, weil es den Weihnachtsmarkt und andere Sachen gibt, aber normalerweise… Das Essen ist eigentlich nicht schlecht hier, es gibt sogar viel gute Pizza.

Hast du ein Lieblingsrestaurant in Hannover, in dem du dich wie zu Hause In Italien fühlst, wenn es draußen grau und winterlich ist?
Ja, die Pizzeria Bestia oder auch das Restaurant Leonardo, das ist direkt hinter dem Theater und es ist ein wirklich gutes italienisches Restaurant. Und Francesca & Fratelli ist auch nicht schlecht, das muss ich zugeben.

Gibt es ein bestimmtes Stück, das du schon immer mal tanzen wolltest oder einen Choreografen, dessen Choreografien du unbedingt lernen möchtest?
Ja, das war „Wir sagen und Dunkles“ von Marco Goecke und ich habe es letztes Jahr getanzt. Marco hat mich während des Vortanzens gefragt, ob ich ihm von meinem Traum erzählen kann, und ich dachte mir, dass ich das nicht kann, weil das zu viele wäre (lacht). Was hätte ich sagen sollen? „Mein Traum ist, dass ich in deinem Stück tanze“? (Lacht) Aber ich habe es getan, ich habe das Stück getanzt und das vor seinen Augen. Es war großartig. Ich hatte wirklich Angst, aber gleichzeitig konnte ich das ganze Adrenalin und die Energie spüren, bevor ich auf die Bühne ging und das war irre. Man kann etwas in sich spüren, wenn man die Bühne betritt, obwohl das Publikum einen wegen des Vorhangs noch nicht sehen kann, aber man ist schon drin. Und man spürt die Energie der Bühne und riecht ihren Duft.

Hast du noch andere Favoriten?
Oh ja, da gibt es viele! Ich habe nur zuerst meinen Bestie genannt (lacht). Es gibt viele Choreograf*innen, die ich mag. Ich mag Sharon Eyal sehr, ich mag Hofesh Shechter, Marcus Morelli, Ekman, Forsythe. Es gibt viele Choreografien, die ich lernen möchte. Mal sehen, ich habe ja gerade erst angefangen, vielleicht in Zukunft …

Wie viel Training hast du pro Woche?
Sechs oder sieben Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche. Manchmal trainieren wir auch weniger am Samstag. Es hängt auch von der Jahreszeit ab, wie das Vorstellungspensum ist. Momentan ist es zum Beispiel sehr anstrengend, weil wir eine neue Premiere für Januar vorbereiten. Wir machen aktuell „Du bist so schön“ von Liliana Barros, Sharon Eyal und Aszure Barton und außerdem haben wir eine Show am 25. Dezember. Wir müssen jeden Tag vier Stücke trainieren und deshalb ist der Zeitplan sehr tough und eng. Das heißt, dass wir nachts richtig gut schlafen müssen, sonst sind wir echt schlecht dran am nächsten Tag (lacht).

Wie sorgst du dafür, dass dein Körper bei all dem gesund bleibt? Tanzen gilt in den USA nicht umsonst als der körperlich anspruchsvollste Beruf …
Ja, es ist wirklich hart. Es gibt Tage, an denen man sich nicht bewegen kann und super steif ist und es einem sogar schwerfällt, den Arm zu heben. Man muss also sehr schlau sein, sich gut aufwärmen, viel dehnen und dem Körper geben, was er will. Denn manchmal fangen wir langsam an und haben Zeit, uns auf das Tanzen einzustimmen, aber manchmal heißt es einfach nach einem kurzen Warm-up: „Okay, Leute, los!“ Und wir müssen zwanzig, fünfundzwanzig Minuten am Stück tanzen. Und wenn man dann nicht bereit ist, kann man sich dabei verletzen. Verletzungen passiert in der Regel nicht, weil der Körper müde ist, sondern weil der Geist müde ist. Wenn dein Körper müde ist, du aber mit deinem Geist noch sehr präsent bist und an jeden einzelnen Schritt denkst, ist es in Ordnung. Wenn du anfängst, beim Tanzen abzuschalten und an etwas anderes zu denken, kann man sich schnell und leicht verletzen.

Aktuell tanzt du „A Wilde Story“. Das Stück erzählt kurz gesagt die Geschichte von Oscar Wilde, aber worum geht es in diesem Ballett genau?
Es ist ein sehr tiefgründiges Stück. Es geht um Agonie und Drama. Man kann in dem Ballett viele Kontraste sehen, Liebe, Traurigkeit. Das Schöne an „A Wilde Story“ ist, dass es, wenn man es sich zweimal anguckt, beim zweiten Mal anders sein wird. Die Choreo ist dieselbe, aber jedes Mal können sich deine Gefühle ändern, und wie du die Charaktere wahrnimmst. Vielleicht vermittelt dir eine Figur den einen Tag Traurigkeit, aber wenn du sie in der nächsten Woche noch einmal siehst, Liebe. Und das ist schön, weil Marco Goecke in diesem Stück viel mit dieser Art von Kontrasten spielt. Auf eine Art und Weise ist es so menschlich, du kannst all diese Dinge in deinem normalen Leben finden: Traurigkeit, Liebe, gute Tage, schlechte Tage, Probleme. Wenn man es auf die Bühne bringt, ist es gleichzeitig wie ein Film, wie eine Geschichte, wie Oscar Wilde. Aber das ist meine persönliche Meinung, vielleicht würde die Antwort ganz anders sein, wenn du einen anderen Tänzer fragen würdest. Ich liebe es einfach, das Stück zu tanzen.

Du hast bereits gesagt, dass du HipHop, Contemporary und Breakdance gemacht hast. Machst du das immer noch?
Für mich allein.

Im Club?
Das hundertprozentig (lacht). Ich bin ein totaler Hip-Hop-Typ. Ich bin buchstäblich mit Hip-Hop-Musik aufgewachsen und ich brauche es. Meine Kollegen machen sich manchmal über mich lustig, weil sie sich vor dem Unterricht alle dehnen, und ich währenddessen mit meinen Kopfhörern in der Ecke stehe und den „Harlem Shake“ mache. Ich brauche das, um Energie zu tanken und den Tag positiv zu beginnen. Ich denke, man kann das verstehen, wenn man Hip-Hop-Musik mag.

Aber Ballett magst du am meisten?

Ballett ist mir sehr wichtig, auch wenn HipHop meine erste Leidenschaft ist. Man muss dafür super geradlinig sein. Und ich entdecke jeden Tag etwas Neues. Ich war früher einer von denen, die sagen, dass sie kein Ballett brauchen. Aber nach nur einem Monat hier habe ich meine Meinung komplett geändert (lacht). Ich bin mit HipHop aufgewachsen, also dachte ich, ich hätte meine Basics und meinen Groove und all das, aber nein – für bestimmte Dinge, die man tänzerisch darstellen möchte, braucht man einfach Ballett.

Ganz zuletzt und ohne zu viel zu verraten, warum sollte man sich „A Wilde Story“ ansehen?
Ich würde gerne eine sehr kurze Antwort geben, eine dramatische (lacht). Es gibt einen guten Grund: Erst, wenn das Stück vorbei ist, fängt man wieder langsam an zu atmen. Während des Stücks sitzt man einfach mit weit aufgerissenen Augen da. Und danach beginnt man dann über die Emotionen nachzudenken. Ich denke, jede und jeder wird etwas in sich spüren. Das ist das Schöne daran, eine von Marcos Choreografien zu erleben. Du kannst ihn mögen oder nicht, aber du wirst danach auf jeden Fall etwas fühlen. Auf eine gute oder schlechte Art und Weise. Wenn man also eine intensive Erfahrung möchte, muss man sich einfach „A Wilde Story“ ansehen.

Filine Hunger


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