Ricarda und Udo Niedergerke

Niedergerke Stiftung

Im Jahr 2018 feierte die Ricarda und Udo Niedergerke Stiftung 10-jähriges Bestehen – und damit fast 400.000 Euro Spenden, die das Ehepaar Niedergerke in dieser Zeit für Menschen in Not, insbesondere für die medizinische Versorgung wohnungs- und obdachloser Menschen, für Migranten und deren Familien zusammenbekommen hat. Mehr als 130 Wohlfahrtsprojekte haben die beiden Mediziner im Ruhestand mit dem Geld unterstützt sowie vielen Menschen aus individuellen Notlagen geholfen. In Isernhagen Süd treffe ich auf zwei ausgesprochen offene und humorvolle Menschen, die von Herzen gerne denen in der Region Hannover helfen, die auch die Schattenseiten des Lebens kennenlernen mussten. Sie erzählen bei einem netten Plausch, warum hohe Mauern nichts für sie sind und welches ihrer Stiftungsprojekte ihnen bisher am meisten bedeutet hat.

Schon als sie die Tür öffnet antwortet die freundliche Ricarda Niedergerke mit einem Lächeln auf mein Kompliment für die schöne Wohngegend, sie glaube, dieses Wohnen hinter hohen Mauern, wo jeder für sich allein sei, mache mit Sicherheit einsam – sie und ihr Mann seien da ganz anders. Tatsächlich machen beide einen geselligen und kontaktfreudigen Eindruck: Wir plaudern über gemeinsame „Bekannte“ und unterhalten uns über die letzte Seite im Stadtkind, das Interview mit Herrn Weil, der zum 10-jährigen Stiftungs-Jubiläum im vergangenen Jahr eine „ganz launige Rede“ gehalten hat, erinnert sich Ricarda, „ganz locker und humorvoll,“ stimmt ihr Udo zu. Bei einem Termin bei Stephan Weil, damals noch Oberbürgermeister, hatten die beiden 2008 ihre Stiftungsidee vorgestellt – und er hat sofort zugesagt, Schirmherr der Stiftung zu werden.

Ricarda Niedergerke, Frauenärztin im Ruhestand, schildert die Anfänge: „Im Jahr 2008 haben wir unsere Praxen in jüngere Hände gegeben, dann sind wir erstmal ein bisschen mehr gereist, haben ein bisschen mehr Sport getrieben. Aber das hat uns alles nicht befriedigt und wir haben gedacht, das kann nicht alles sein.“ Udo Niedergerke, Hausarzt der alten Schule, ergänzt: „Der Mensch war immer der Mittelpunkt unseres Lebens und unseres Tuns. Wir lieben Menschen, wir gehen auf Menschen zu, wir wollen mit Menschen zusammen sein und uns mit Menschen austauschen, Menschen helfen – das ist uns wichtig. Wir hatten unsere Praxen über 30 Jahre lang in Misburg, einem Ortsteil, wo alle Bevölkerungsgruppen leben, auch das war uns wichtig. Da wir keine Kinder haben und immer voll im Beruf aufgegangen sind, haben wir morgens um 7 Uhr angefangen und abends um 7 Uhr aufgehört, zum Teil danach noch Hausbesuche. Man kann sich vorstellen, wenn das auf einmal wegbricht … Nach einem Jahr hatten wir dann genug Luft geholt und wollten wieder etwas Sinnvolles tun.“

Aber wie kommt man als gutsituiertes Rentnerpaar darauf, sich nun im Ruhestand um Wohnungs- und Obdachlose zu kümmern, frage ich Ricarda, die erwidert: „Das hing schon mit der Tätigkeit in der Praxis zusammen. Mir sind Patienten begegnet, denen es oft sehr gut ging, die sogar mal privat versichert waren, und die irgendwann durch Erkrankung, Schicksalsschläge wie Krebs oder Alkoholismus auf eine andere Ebene des Lebens abgerutscht sind. Die haben wir über viele Jahre betreut, das war uns immer ein Anliegen. Im Winter sieht man in Hannover die Notleidenden, doch uns kam es so vor, als würde sich kein Mensch um die kümmern – um Kinder kümmert man sich, um Tiere kümmert man sich, aber für die Wohnungslosen und Obdachlosen hatte keiner ein Ohr. Da waren wir schon sensibilisiert, da zu helfen.“
Udo formuliert es so: „Ich sage immer: Wer Gutes für andere tut, tut auch Gutes für sich. Was wir tun, tun wir einmal für die Bedürftigen, dann für die in der Wohnungslosenhilfe Tätigen und nicht zuletzt zum Wohle unserer Stadt. Ich glaube, den reinen Altruismus gibt es nicht. Einer, der nur und ausschließlich für andere da ist – so ganz Gutmensch – der ist irgendwie unglaubwürdig. Wir kriegen sehr viel zurück für das Gute, was wir anderen tun.“

Über ihren Freund Claus von Holn, damaliger Geschäftsführer der Bürgerstiftung, kam die Idee auf, eine Stiftung zu gründen, die treuhänderisch betreut werden könnte. Udo gibt zu: „Mit unserem Namen so nach vorne zu gehen und die Stiftung nach uns zu nennen, damit haben wir uns anfangs außerordentlich schwer getan. Wir wollten nicht im Mittelpunkt stehen, sondern die Sache sollte im Vordergrund stehen – die Menschen in Not eben. Da mussten wir wirklich überzeugt werden, dass Niedergerke für den einen oder anderen positiv besetzt ist und etwas dazu beiträgt. Inzwischen würdest du sagen (wendet er sich schmunzelnd an seine Frau) bin ich skrupellos geworden – um der guten Sache Willen mache ich alles. Fast alles.“

Nachdem das allgemeine Gelächter abgeebbt ist, fügt Ricarda N. hinzu: „Wir haben mit der Zeit gelernt, um Geld zu bitten. Zuerst muss man ein bestimmtes Stiftungskapital haben, doch da musste mehr Geld her, das wir ausgeben konnten. Wir hatten ja zwei Praxen aufgegeben, und die hingen beide voller Bilder. Also haben wir zwei Versteigerungen gemacht, bei denen im ersten Durchgang 60.000 und im zweiten mit Kunstgaben von Freunden und Bekannten weitere 40.000 Euro zusammengekommen sind. Das war dann ein guter Grundstock für die Stiftung.“ Und Udo weiß zu berichten: „Unser erstes Benefizkonzert hat damals noch Bernd Strauch im Jazzclub gemacht. Da haben wir nochmal satte 4000 Euro bekommen, Herr Weil kam noch um 21 Uhr abends und hat eine Rede gehalten – ich muss wirklich sagen: Hannover hat uns ganz ganz weit die Türen geöffnet und uns alle Chancen gegeben. Wir sind dieser Stadt außerordentlich dankbar.“ Im Jahr 2014 hat das Ehepaar die Stadtplakette bekommen – eine sehr schöne Anerkennung und Bestätigung ihrer Tätigkeit. Vom Freundeskreis gab es zudem den Preis für besonderes bürgerschaftliches Engagement, auch das eine motivierende Geste, die die Niedergerkes gefreut und der Stiftung mehr Öffentlichkeit beschert hat.

Um herauszufinden, wo es akut mangelt, sind die Niedergerkes zu Beginn sechs Wochen lang mit der Diakonie, der Caritas und der AWO durch alle Wohnungslosenheime Hannovers gegangen und arbeiten seither mit den Hilfsorganisationen zusammen, um Engpässe zu überbrücken und unbürokratisch dort einzuspringen, wo schnell Hilfe gebraucht wird. Wichtig ist den Niedergerkes zusätzlich zu der Unterstützung der sozialen Organisationen auch die individuelle Hilfe im Einzelfall: Die Stiftung hat rund 4.000 Euro für Menschen ausgegeben, die sich in medizinischen oder sozialen Notlagen befanden. Wenn sich jemand etwa bei der Caritas meldet, der ganz wunde Füße und Schuhgröße 50 hat, oder sich jemand auf seine Brille gesetzt und sie kaputt bekommen hat, dann sind sie da. Ricarda muss nicht lange überlegen, als ich sie nach persönlichen Schwerpunkten ihrer Stiftungsarbeit frage. „Ich habe natürlich mehrere Herzensprojekte,“ fängt sie an, – wird lachend von ihrem Mann unterbrochen, der herausplatzt: „… früher war ich das mal!“ – und darf weiter ausführen: „… aber eines ist mir besonders in Erinnerung geblieben. 15 Süd-Sudanesen kamen nach Lehrte, und damals gab es noch keine Hilfsangebote. Im November sind die gekommen und von Januar bis März haben die schon einen Deutschkurs gemacht in der AWO. Wir haben das unterstützt, z.B. die Fahrkarten bezahlt und was für die Lehrerin, die die AWO eingestellt hat, so um die 8.000 Euro insgesamt. Nicht nur, weil wir die Jungs dann auch kennengelernt haben, fand ich das Projekt und den Erfolg so toll: Fünf von denen haben eine Anstellung bei der AWO als Köche bekommen. Ist das nicht toll? So etwas hätte in so kurzer Zeit ohne Hilfe niemals geklappt. Das ist etwas, was richtig motiviert.“

CariHope, Foto: Wolfgang WeihsUdo erzählt ausführlicher von CariHope, dem gemeinsamen Hilfs-Programm mit der Caritas, durch das wohnungslose Menschen entlastet und in vielen kleinen Schritten in die Gesellschaft reintegriert werden sollen. Vorbild ist das erfolgreiche Flüchtlingsprojekt Raphaelo: der Gang zum Arzt, zum Ordnungsamt, die Anmeldung von Kindern beim Kindergarten und so weiter wurde von Sozialarbeitern begleitet, nachdem die Geflüchteten aus der Sammelunterkunft in eigene Wohnungen wechseln konnten und ihnen zunächst keine Betreuung mehr zustand. Die Niedergerke Stiftung hat diese Hilfestellung mit zwischenfinanziert, bis die Stadt übernommen hat. Udo fasst zusammen: „Es geht darum, den Ausstieg aus der Wohnungslosigkeit zu unterstützen, gemeinsam den Einstieg in den Ausstieg zu schaffen. Die Region stellt am Alten Flughafen Zimmer zur Verfügung, wo Obdachlose nächtigen können. Aber jetzt war die Frage, wie sie da überhaupt hinkommen sollen. Da haben wir auch wieder die Fahrkarten besorgt und inzwischen gibt es einen Bus. Auch wieder ein Beispiel dafür, was Aufgabe der Stiftung ist, nämlich schnell und unbürokratisch einzuspringen, bis die Stadt oder andere Träger soweit sind und das übernehmen können. In der Caritas am Leibnizufer haben wir jetzt einen Keller ausgebaut, wo die Leute in abschließbaren Spinden ihre Sachen lagern können. Zwei Wohnungslose haben dort einen sozialversicherungspflichtigen Job bekommen, die über diese Spinde wachen – das ist so ein Einstieg in den Ausstieg, der für zwei Menschen schon mal gelungen ist.“ Aktuell wird ein Grundstück für weitere und größere Lagermöglichkeiten gesucht, denn viele Wohnungslose ziehen mit Einkaufswagen umher, und auch die sollen trocken und sicher irgendwo abgestellt werden können.

Was Menschen ohne Wohnung auf ihren Streifzügen durch die Stadt so zu sehen bekommen, das zeigt „Mein Hannover“, eine Fotoausstellung, die die Niedergerkes initiiert haben. 70 Männer und Frauen waren mit Einwegkameras dort unterwegs, wo sie zu Hause sind: auf der Straße, in der Unterkunft, im Wohnheim. Ihre Fotos zeigen ihre Sicht auf ihren Alltag, ihre Stadt.

Ein Abend mitten im Herzen der Stadt, nämlich im GOP Varieté-Theater, wird die alljährliche Benefiz-Gala der Niedergerke Stiftung für Menschen in Not in der Region. Das Motto ist wie immer „Wir lassen niemanden im Regen stehen“. Erstmals verantwortlich für die Regie ist Matthias Brodowy, der ein zauberhaftes Programm zusammengestellt hat, das kurzweilige und großartige Unterhaltung verspricht. Mit dabei sind FmF – Frauen mit Freund, der Clown Monsieur Momo, Bühnenpoet Tobias Kunze, die Deutschen Meisterinnen im Aerobicturnen, ein Überraschungskünstler, Musik kommt von Liese-Lotte Lübke und Milou & Flint. Musikalisch hochkarätig geht es weiter am 10. November ab 16 Uhr beim Benefizkonzert in der Neuapostolischen Kirche Hannover-Süd mit dem Verein Klassik in der Klinik e.V., Organist Karsten Warnecke und dem Kammerchor der Neuapos­tolischen Kirche. Wie immer ist es zu diesen Gelegenheiten so, wie es die lieben Niedergerkes gerne haben – und mit ihnen wohl auch der Rest der Welt: Eine schöne Zeit führt zu großzügigen Spenden und sorgt damit dafür, dass helfende Hände ausgestreckt und „Rettungsschirme“ dort aufgespannt werden können, wo sie gebraucht werden.

Anke Wittkopp, Foto CariHope: Wolfgang Weihs

Benefizabend am 14. Oktober im GOP
Beginn: 19.30 Uhr, Karten 45 Euro
VVK unter Tel. (0511) 30186710 oder www.variete.de

Benefizkonzert am 10. November in der
Neuapostolischen Kirche Hannover-Süd
Beginn: 16 Uhr, Eintritt frei, Spenden erbeten

Mein Hannover
Fotoausstellung von Menschen ohne Wohnung
ab Mitte Dezember im Pavillon

Spendenkonto
Ricarda und Udo Niedergerke Stiftung
NORD/LB Hannover
IBAN DE59250500000151152774
BIC NOLADE2HXXX

 

Kurz nachgefragt

Wie haben Sie sich kennengelernt?
Ricarda: Im Präparierkurs zu Beginn des Medizinstudiums „an der männlichen Leiche“.
Udo: Diese Ehe musste im Grunde glücklich werden. Wenn der eine aus Osnabrück kommt, der andere aus Münster, die beiden Städte des westfälischen Friedens – das kann nur eine friedvolle Verbindung sein.

Was hat Sie nach Hannover geführt?
Hannover kam wegen der MHH ins Gespräch. Wir waren im konservativen Münster alle so ein bisschen links gestrickt, und Hannover hatte Drittelparität, Mitbestimmung, Senat und und und, da haben wir gesagt: Da müssen wir hin! Das war eine ganz tolle Entscheidung: Hannover ist eine weltoffene Stadt, eine liberale Stadt, das haben wir wirklich genossen. Und inzwischen sind wir Hannoveraner mit Leib und Seele.

Haben Sie noch Zeit für Hobbys neben der Stiftung?
Ricarda: Wir sind in der ganzen Welt herumgereist, kennen u.a. auch alle kommunistischen Länder, denn ich bin bis zum 10. Lebensjahr in der DDR aufgewachsen, da interessiert einen das schon.

Was fehlt aktuell in Hannover?
Der Meckiladen quillt über, da ist eine Krankenschwester, einmal die Woche ein Arzt – das reicht bei weitem nicht. Da wird Geld, Hilfe und Manpower gebraucht.

Vision der Stiftung:
Udo: Einen Pfad zu finden, wo man rasch Hilfe leisten kann. Wir wollen nicht die Obdachlosen bekämpfen, sondern die Obdachlosigkeit.
Ricarda: Viele sagten anfangs, als sie von unserer Stiftung und dem Stiftungsziel hörten: „Wieso, der Staat kann doch, der soll doch, uns geht es doch gut in Deutschland?!“ – die musste man dann erstmal aufklären, dass dem nicht so ist und dass wir durchaus ehrenamtlich tätig sein müssen, und die Augen nicht verschließen dürfen. Wir wollen bei Leuten, denen es besser geht, rüberbringen, dass Obdachlose keine Menschen zweiter Klasse sind. Dass sie Menschen sind, die Würde haben. Wir wollen sie für voll nehmen und ihnen eine Stimme geben.

 

Diesen Beitrag kommentieren

Stadtkind twittert