Tag Archive | "Hartmut El Kurdi"

El Kurdis Kolumne im Mai

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El Kurdis Kolumne im Mai


Meine nominelle Arisierung

Für viele Deutsche ist es eine Herausforderung, jemandem mit einem nahöstlichen, asiatischen oder afrikanischen Namen zu begegnen.
Sie fangen an zu stammeln, machen hilflose Artikulationsversuche und sprechen den Namen dann halt irgendwie aus.
So wurde ein Mitschüler meiner Tochter von den Lehrer*innen konsequent „Aamett“ genannt, obwohl er selbstverständlich Ahmed hieß, und es ja nun wirklich nicht so schwer sein sollte, sich zu merken, dass ein solches „h“ in der Mitte tendenziell eher wie ein „ch“ gesprochen wird.
Aus diesem Grund habe ich meinen arabischen Vornamen schon 1971, kurz nach meiner Einschulung, selbständig gegen meinen urdeutschen Mittelnamen getauscht. Eigentlich heiße ich ganz vorne nämlich „Samer“, was hübscherweise soviel bedeutet wie „Jemand, der seine Freunde des Nachts mit Plaudereien unterhält“. Leider aber bekamen die Kinder in meiner Klasse diesen Namen einfach nicht über die Lippen. Obwohl „Samer“ ja keinerlei schwer auszusprechende Konsonantenanhäufungen, übermäßig viele Ypsilons oder andere komplizierte Buchstabkombinationen enthält.
Selbst meine Lehrerin konnte „Samer“ bei der Anwesenheitskontrolle nicht ohne Stocken aus dem Klassenbuch ablesen.
Damals hieß man als Junge in Deutschland üblicherweise Matthias, Andreas, Michael. Die mit exzentrischen Eltern hießen Oliver oder Pascal. Da ich in einem robusten Viertel in Kassel aufwuchs, nannten mich meine Mitschüler wahlweise „Samen“ „Besamer“ oder irgendwas anderes mit Sperma. Ein Junge nannte mich, warum auch immer, „Senftopf“.
Ich dachte mir: Dann doch lieber „Hartmut“. Das klang für mich eindeutig, unverfänglich und deutsch. Diesen Zweitnamen hatte mir meine deutsche, sommersprossige Mutter verpasst, weil sie, als ich ihr in Amman nach der Geburt in die Arme gelegt wurde, vermutlich dachte: Okay, es ist also, wie erwartet, ein kleiner Schwarzkopf geworden. Der kriegt jetzt mal zum Ausgleich einen germanisch-blonden SS-Mittelnamen. Quasi als Look-Name-Balance. Und als eine Art nominelle Arisierung.

Meine Umbenennung war allerdings nur so mittel erfolgreich: Mein Nachname „El Kurdi“ verwirrt manche Deutsche so, dass sie gar nicht anders können, als meinen Vornamen schriftlich zu „Hartmoud“ zu orientalisieren. Analog zum arabischen „Mahmoud“, was übrigens der Vorname meines Vaters ist. Der von Deutschen allerdings oft „Mammut“ ausgesprochen wird. Siehe: Aamett.
Auch schön: In verschiedenen Zeitungen – von TAZ bis ZEIT – erschienen schon Texte von mir unter meinem unfreiwilligen Pseudonym „HELMUT El Kurdi“. Daran gefällt mir, dass die Verantwortlichen hier gar nicht dazu kommen, meinen arabischen Nachnamen zu verhunzen, sondern sich vorher schon im deutschen Vornamengestrüpp verheddern: Hartmut, Helmut, Helmfried, Friedhelm – was soll’s? Alles eine Suppe! Lustigerweise nennt mich auch meine Freundin Mely Kiyak  – im Gegensatz zu mir halbkurdischem Hessen vollkurdische Niedersächsin – konsequent Helmut. Zumindest in unserer erschütternd albernen Digital-Korrespondenz. Beim ersten Mal war es wohl ein Versehen. Wir kannten uns noch nicht gut. Seitdem macht sie es aus Daffke. Ich nenne sie folgerichtig und durchgehend seit Jahren Melanie. Melanie ist, neben Claudia beziehungsweise „Claudi“, mein deutscher Lieblings-Frauen-Seventies-Name.  Obwohl: „Dagmar“ respektive „Daggi“ und „Petra“ finde ich auch nicht schlecht…

Abschweifung: Hätten meine Freundin und ich unsere Tochter „Petra“ genannt, dann wäre Petra kürzlich in Petra gewesen. Was mir sehr gefallen hätte. Die junge Frau war nämlich kürzlich zum ersten Mal in meinem Geburtsland und besuchte dort unter anderem die alte nabatäische Felsenstadt „Petra“. So war aber nur Salima in Petra. So heißt meine Tochter nämlich wirklich. In Jordanien war sie mit einer französischen Freundin, die den schönen, leicht ähnlich klingenden hebräischen Namen „Salomé“ trägt  – und die prompt bei der Einreise am Flughafen in Amman von den jordanischen Grenzbeamten gefragt wurde, ob sie Jüdin sei. Als meine Tochter mir davon berichtete, dachte ich: Die lassen aber auch kein Klischee aus. Vor allem: Was wäre passiert, wenn sie tatsächlich Jüdin gewesen wäre und mit „ja“ geantwortet hätte?  Abschweifung beendet.

Meine Tochter Salima wird in Deutschland übrigens mal Samira, mal Selina, mal Shalimar genannt. Selbst wenn die Leute ihren Namen vor sich auf einem Formular oder ihrem Ausweisdokument stehen haben. Manchmal glaube ich, dieses Land braucht dringend eine Alphabetisierungskampagne.

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im April

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El Kurdis Kolumne im April


Die U-Bahn in unseren Köpfen

Hin und wieder besuche ich meine Quasi-Heimatstadt Kassel – und betreibe dort semi-sentimentale kulturwissenschaftliche Studien.
Neulich stand ich auf dem Platz vor dem alten Kasseler Hauptbahnhof und trauerte um die Kasseler U-Bahn. Die es selbstverständlich nie gab. Dazu ist die „Stadt der Künste und Kongresse“ – so eine frühere Eigenwerbung – bei aller Liebe mit ihren 200.000 Einwohnern dann doch zu klein.
Was es aber gab, war eine einzelne, solitäre U-Bahn-Station. Eben dort: Unter dem Vorplatz des Hauptbahnhofes. Mit allem Drum und Dran: U-Bahn-Schildern, Rolltreppen und einer schicken Ladenzeile auf einer „B-Ebene“.

Welche Drogen man damals – Mitte der 1960er – in der „nordhessischen Metropole“ genommen haben muss, um auf die Idee zu kommen, eine stinknormale Straßenbahn vor dem Bahnhof mal kurz unter die Erde tauchen und sie direkt dahinter wieder aus dem Hades herausfahren zu lassen, lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren.

Vermutlich wollte man genauso modern sein wie der ewige hessische Konkurrent Frankfurt, der zeitgleich eine richtige U-Bahn baute. Wobei Frankfurt für Kassel eine ziemlich größenwahnsinnige Referenz war: Die Stadt am Main zählte schon damals drei bis vier Mal so viele Einwohner und war der Standort eines riesigen Flughafens und vieler internationaler Banken. Einzig beim direkten Geschmacksvergleich der lokalen Spezialitäten „Handkäs mit Musik“ (faktisch: Harzer Käse in einer Zwiebelmarinade) und „Ahle Wurscht“ (so eine Art Eichsfelder Stracke, bloß in lecker) hat Kassel bis heute die Nase und Zunge vorn.
Ansonsten lebten wir in Kassel nun mal im Zonenrandgebiet, in der Provinz, in der Hauptstadt von Hessisch-Sibirien, und freuten uns, bei Sturm nicht von der Erdscheibe herunter zu kullern …

Allerdings genossen wir es, dass wir mit DDR 1 und 2 immerhin zwei TV-Sender mehr als die Frankfurter empfangen konnten. Das war‘s dann aber auch schon.

Andererseits: Es funktionierte. Ich erinnere mich, dass wir als Jugendliche, nachdem wir uns im Kino zunächst durch das Anschauen von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ über die Drogenkonsumgewohnheiten von echten Großstadt-Teenagern informiert hatten, in die Kasseler U-Bahn-Station pilgerten – um dort dann zwar keine Opiate, aber doch immerhin leichte Cannabis-Produkte zu uns zu nehmen. Das fühlte sich fast authentisch an …

Einige Jahre später zog ich dann zum Studieren nach Hildesheim. Dort stellte ich fest, dass man für eine Fake-U-Bahn-Station noch nicht mal eine Straßenbahn braucht. Wer schon mal in Hildesheim war, weiß: Die Fußgängerzone wird von einer großen Straße, der Kaiserstraße, zerschnitten, die man heute oberirdisch an einer Fußgängerampel überquert. Früher aber existierte an dieser Stelle eine berolltreppte Unterführung. Soweit so üblich. Aber anders als andernorts, stattete man in Hildesheim diese Unterführung mit Läden aus (Popcorn, Billig-Klamotten, einen griechischen Imbiss, Ledergürtel), ließ das Ganze dann über die Jahre gezielt verranzen und verrotten und pinselte so dort für ca. 30 Meter einen charmant urban-urinigen Heroin-Chic unter die Erdoberfläche.
Wenn es mir in Hildesheim gelegentlich etwas zu idyllisch und eng wurde, stellte ich mich manchmal für fünf Minuten in diesen „U-Bahn“-Tunnel. Einfach so. Und atmete ein. Und durch.

Als ich Ende der 80er das erste Mal Hannover besuchte, beeindruckte mich hier natürlich die richtige U-Bahn. Ich dachte: Das muss tatsächlich eine Großstadt sein! Noch beeindruckender aber fand ich, dass man hier auch noch Teile der Fußgängerzone tiefergelegt hatte. Und den Autoverkehr an einigen Stellen nach oben. So als wollte man sagen: Hier ist soviel los, wir müssen auf mehreren Ebenen arbeiten!
Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Kumpel Matthias in seinem klapprigen Ford Fiesta über die Hochstraße am Aegi fuhr. Und es uns ein bisschen wie fliegen vorkam. Und auf eine paradoxe und faszinierend altmodische Art „modern“. So als wären wir in einen Science-Fiction-Film aus den 1960ern gerutscht, in dem auf dem Boden wie gehabt Autos und Fußgänger insektenartig herum krauchen, eine Etage höher aber der coole „state-of-the-art“-Verkehr stattfindet: umherzischende Flugtaxis und schwebende Menschen mit düsengetriebenen Flugrucksäcken …

Die U-Bahn-Stationen in Kassel und Hildesheim sind inzwischen Geschichte. Verrammelt und verschüttet. Auch die Hochstraße am Aegi ist Vergangenheit. Und fast schon vergessen.
In diesem Sinne: Gern geschehen. Mein Leben ist Service.
● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im März

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El Kurdis Kolumne im März


Der Rasierhobel Gottes

Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass es einen Gott gibt. Um mal den klassischen Theodizee-Widerspruch zu zitieren: Wenn ein allmächtiger und gerechter Gott existiert, wie kann er dann so etwas wie Dieter Nuhr zulassen? Der Umstand, dass Nuhr in Deutschland als intelligenter Unterhalter gilt und in den nächsten 50 Jahren vermutlich weiter bis zu 38 wöchentliche Sendetermine in der ARD belegen darf, ist ein Beweis, dass Gott entweder nicht allmächtig oder nicht gerecht ist. Da diese beiden Eigenschaften aber als dem Wesen Gottes eigen gelten, folgt daraus: Er existiert nicht.

Aber ich gebe zu: Kaum etwas ist nerviger als Leute, die unbedingt Gottes Existenz widerlegen wollen. Das liegt daran, dass die meisten leidenschaftlichen Atheisten selbst abgefallene Gläubige sind. Sie denken, sie hätten die Sphäre des Glaubens verlassen, tauschen tatsächlich aber nur die Glaubensinhalte aus. Sie konvertieren zum Atheismus wie zu einer anderen Religion. Und wie viele Konvertiten neigen sie zum Extrem. Ist ja auch klar: Das was sie vorher glaubten, hielten sie zu diesem Zeitpunkt für wahr und richtig; wenn sie nun stattdessen etwas anderes für richtig erachten, muss das selbstverständlich noch wahrer und noch richtiger sein – und wird dementsprechend noch vehementer vertreten. Konversion ist fast immer ein Fanatismus-Booster. Egal ob von evangelisch zu katholisch, christlich zu muslimisch, gläubig zu atheistisch oder in die jeweils andere Richtung.
Echte Atheisten, also Menschen, die einfach nicht an Gott glauben (können), sind hingegen eigentlich immer Agnostiker. Kann sein, kann nicht sein. Es spielt für sie einfach keine Rolle, es ist ihnen schlicht humpe, ob Götter existieren oder nicht. Oder warum Menschen an sie glauben. Sie möchten eigentlich nur, dass die Gläubigen den anderen Menschen nicht vorschreiben, ob und mit wem sie Sex haben, was sie lesen, essen, trinken oder welchen Haar- oder Vorhautschnitt sie tragen dürfen.

Eigentlich bin ich prädestiniert dazu, ein militanter fanatischer Unglaubenskrieger zu sein, ein Dschihadist des Atheismus. Wie ich ja schon gelegentlich berichtete, bin ich in einer fundamentalistischen christlichen Sekte aufgewachsen. Bei den Zeugen Jehovas. Und selbstverständlich habe ich aus dieser Kindheit einen schweren Dachschaden davongetragen. In etwa so wie manche 68er oder 78er aus ihrer KBW-Mitgliedschaft. Der Unterschied ist nur: Die zur Demokratie und zum liberalen Parlamentarismus konvertierten Maoisten bei den Grünen, der SPD oder dem Springer-Möchtegern-Quality-Paper „Die Welt“ sind Meister der psychologischen Projektion. Sie riechen bei jedem jungen Menschen, der noch einen politischen Puls hat, gleich Totalitarismus. Weil sie selbst totalitär waren. Wenn zum Beispiel junge Klimaaktivist*innen sehr sachlich, aber deutlich das vertreten, was 99 Prozent der Wissenschaftler*innen auch vertreten und dann als Konsequenz Tempolimits, das Verbot von Inlandsflügen und das sofortige Ende des Kohleabbaus fordern – schreit ein Teil der Alten: Öko-Diktatur, Verbotismus, Tod der Freiheit. Was, wie gesagt nicht viel über die Klimaaktivist*innen sagt, aber alles über die Schreienden. Sie projizieren ihre eigene Vergangenheit und ihr eigenes Totalitarismus-Potential auf andere. Auf junge Menschen, die eigentlich nur ihr Recht auf Teilhabe und friedlichen Protest wahrnehmen.
Ebenso unterstellen viele Atheisten, die früher mal an Gott geglaubt haben, allen aktuell Gläubigen gerne mal, diese seien genauso fanatisch wie sie es früher waren. Sind sie aber vielleicht gar nicht. Zumindest nicht alle. Irgendwie habe ich Glück gehabt. Ich weiß zwar nicht warum, aber ich muss nichts projizieren. Obwohl ich als Kind von einem „theokratischen“ System nach Harmagedon träumte, gehe ich nicht davon aus, dass alle Gläubigen einen Gottesstaat errichten wollen. Ich lass die anderen einfach glauben. Solange sie mich in Ruhe lassen.
Kürzlich glaubte ich übrigens doch mal wieder ganz kurz an die Existenz Gottes: Ich hatte grade einen neuen Theodizee-Widerspruch formuliert: „Wenn ein allmächtiger und gerechter Gott existiert, wie kann er dann zulassen, dass junge Menschen Schnurrbärte tragen?“
Und – believe it or not – exakt einen Tag später nahm Kevin Kühnert tatsächlich seinen Schnäuzer wieder ab. Ich dachte: Das muss der Rasierhobel Gottes gewesen sein! Aber es war wohl nur Zufall und ein religiöser Flashback meinerseits. Das Streben nach Metaphysik sitzt bei aller Rationalität dann doch tief …
● Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Juli

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El Kurdis Kolumne im Juli


Stell dir einfach vor, wir hätten …

Weiß eigentlich jemand, wann es angefangen hat, dass Deutsche sich zur Begrüßung umarmen und küssen? Als ich ein Teenager war, gab es das auf alle Fälle noch nicht. Wenn wir Pubertanten uns damals begegneten, nickten wir uns cool zu und sagten „Hi“. Bestenfalls machten wir kurz Augenkontakt und hoben vielleicht – möglichst ohne sichtbares emotionales Engagement – ganz leicht die Hand. So als wolle man winken, habe es sich aber kurz nach Beginn der Bewegung anders überlegt. Wie das eben junge Menschen tun, wenn sie noch nicht wissen, ob dieser Körper nun endgültig ihnen gehört, oder ob er ihnen nur versehentlich zugeteilt wurde, und sie ihn morgen wieder zurückgeben müssen. Erwachsene hingegen schüttelten sich zur Begrüßung mit festem Griff die Hände. Das war‘s. Einzige Ausnahme: Man verabschiedete am Bahnhof oder Flughafen einen Blutsverwandten – oder jemanden, mit dem man regelmäßig Körperflüssigkeiten austauschte – zu einer langen Reise. Oder sah ihn nach einer solchen wieder. Dann gab es auch mal kurzen Körperkontakt in der Öffentlichkeit.

Mit Verwunderung nahmen wir die Begrüßungs-Rituale anderer Völker zur Kenntnis: Zwei angedeutete Wangenküsse in Griechenland, Italien und Frankreich (außer in Paris, da gab‘s angeblich vier), drei „Airkisses“ in Belgien; und in der Schweiz je nach Region mal zwei, mal drei. Und dann war da noch der sozialistische Bruderkuss. Ein Begrüßungsritual aus der Arbeiterbewegung, mit dem die Küsser ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Kommunisten signalisierten. In Vollendung von Erich Honecker und Leonid Breschnew 1979 anlässlich der Feier zum 30. Jahrestag der DDR praktiziert: links, rechts, links und dann mit Schmackes auf den Mund. Manche kennen vielleicht das ikonographische Foto dieses Motivs von Régis Bossu.

Jenseits des ZKs der SED aber wurde in Deutschland außerhalb der Familie weder geküsst noch umarmt. Das Land war geprägt von stoffelig-kartoffeliger Stock-im-Arsch-Steifheit und immer einer Armlänge Distanz. Das muss man im Übrigen weder gut noch schlecht finden oder anderweitig bewerten. Es war eben so. Obwohl ich ja Halb-Orientale bin, kam ich damit gut zurecht. Dennoch beugte ich mich dem irgendwann einsetzenden sozialen Druck zur Drückerei. Aber wenn ich in ein Land zöge, in dem man sich zur Begrüßung an die Geschlechtsteile fasste – ohne dass das als Belästigung gelten würde –, gewöhnte ich mich vermutlich auch daran. Ehrlich gesagt kommen mir die heute üblichen „hugs and kisses“ auch oft noch so vor, als griffe mir jemand ungefragt ans Skrotum. Aber man will ja nicht als Sonderling oder Sozial-Schrulle gelten, also lasse ich es geschehen. Oder ließ.

Corona war diesbezüglich ein Segen für Menschen wie mich. Auf einmal war Drück-und Küss-Pause. Und schnell entwöhnte ich mich wieder. Wie in meiner Jugend wurde wieder genickt, gewunken – und bei engen Freunden auch mal die Ghettofaust oder das Ellenbogen-Petting angeboten. Alles gut, alles entspannt. Als ich im Sommer 2021 nach langer Zeit mal wieder meinem Freund Ralf Sotscheck begegnete – der seit Jahrzehnten in Irland lebt und von dort für die TAZ berichtet –, hatte ich außer Freundin und Tochter seit eineinhalb Jahren niemanden mehr umarmt. Und dabei, ehrlich gesagt, nichts vermisst. Nun breitete Ralf seine Arme aus, um mich an sein großes deutsch-irisches Herz zu drücken, und obwohl ich wusste, dass wir beide durchgeimpft waren, blockierte etwas in mir. Zunächst schoss mir das Credo der Hauptfigur aus Herman Melvilles Erzählung „Bartleby der Schreiber“ durch den Kopf: „I would prefer not to!“ Aber das traf es nicht. Ohne zu wissen, was herauskommen würde, öffnete ich den Mund – und stammelte: „Ralf … ich glaub, ich bin noch nicht soweit.“ Ralf – eine Seele von Mensch – schaute mich verwirrt an. Aber nachsichtig wie er ist, vergab er mir diesen Affront. Als ich das am Telefon wiederum meinem Freund Matthias erzählte, der in seiner Funktion als Theater-Dramaturg nochmal in besonderer Form Körperlichkeit ausgesetzt ist, sagte dieser: „Darf ich das auf‘n T-Shirt drucken?“ „Klar“, sagte ich. Und dann entwarfen wir eine komplette Distanz-Kollektion. Neben den Shirts mit „Sorry, ich glaub, ich bin noch nicht soweit!“ designten wir – auf irgendsoeinem Online-Klamotten-Design-Portal – Hemdchen mit: „Nee komm, lass ma!“, „Nicht anfassen!“, „XXX“ und „Stell dir doch einfach vor, wir hätten …“. Ich gehe mal davon aus, dass die Kollektion demnächst im Stadtkind-Merchandise-Shop erhältlich sein wird.

Hartmut El Kurdi

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Lob des Mainstreams

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Lob des Mainstreams


Ich habe diese Kolumne ja schon öfter für gnadenlose und peinliche Geständnisse benutzt. Irgendwo zwischen stalinistischer Selbstkritik und katholischem Beichtstuhlgespräch. Es nutzt ja nichts zu lügen und sich als klüger und witziger darzustellen als man ist. Auch wenn man das in der Pandemie, in Zeiten von Zoom und Social Media oft erfolgreich vermeiden konnte und kann: Irgendwann begegnet man doch mal echten Menschen auf Achselgeruchdistanz, unterhält sich, interagiert – und schwupps stellen sie fest, man ist viel döfer und langweiliger als man in seinen Texten und Insta-Storys behauptet hat. Und die ganze schöne So-tun-als-ob-erei war für‘n Arsch.

Nun denn, hier mein heutiges Bekenntnis: Ich möchte Mainstream sein. Punkt. Kein Wenn, kein Aber. Ich will sein wie alle. Oder wenigstens wie viele. Aus die Maus.

Das einfach so zu stehen zu lassen und nicht zu relativieren, ist schwer. Schließlich gehöre ich verschiedenen Gesellschaftsgruppen an, die sich vor allem darüber definieren, dass sie eben das nicht sind: Wie die Anderen. Wie die Meisten.

So entstamme ich zwar eher dem Working-Class-Milieu, bin aber durch das Aufstiegsversprechen der 70er-Jahre und die damalige hessische Schulpolitik auf die schiefe Bahn geraten und irgendwie ins Bildungsbürgertum abgerutscht, genauer gesagt in eine besondere Teilmenge dieser Gesellschaftsgruppe: In die Kunst- und Kulturszene. Und dort ist man ja – obwohl man oft irgendwie links und sozial tut – vor allem damit beschäftigt, sich vom RTL2-Proletariat abzugrenzen. Oder als Fan des postdramatischen Diskurs-Theaters – quasi binnenbildungsarrogant – klar zu stellen, dass einen mit dem Spießer-Stadttheater-Abo-Publikum nichts, aber auch gar nichts verbindet. Auch die Pop-Variante dieser kulturellen Selbsterhebung amüsiert mich immer wieder in ihrer Paradoxie: Der Indie-Rock-Anhänger verachtet den Mainstream-Popisten, die Art-House-Cineastin den Actionfilm-Liebhaber etc. pp.

Politisch bewege ich mich in ähnlich vermintem Gelände. Viele Leute, die ich kenne belächeln insgeheim – manchmal auch ganz offen – Menschen, die Mitglieder einer politischen Partei sind. Nicht, dass ich das nicht verstehen könnte – angesichts von Fraktionszwang und Parteidisziplin, angesichts der gestammelten Satzsimulationen von Olaf Dingens, der Herrenreiter-Arroganz des Blackrock-Millionärs Friedrich Merz und Sahra Wagenknechts National-Bolschewismus. Von egozentrischen Krawallschachteln wie Boris Palmer oder gewissenlosen Hals-nicht-voll-Kriegern wie Gerhard Schröder, will ich gar nicht erst reden. Und dennoch …

Sagen wir, wie es ist: Neben vielem Abseitigen und Nerdigem mag ich Taylor Swift und Miley Cyrus, finde dass Phil Collins tatsächlich ein paar große Songs geschrieben hat und dass das Schauen alter „Gilmore Girls“-Folgen keine „guilty pleasure“ ist, sondern veritabler Kunstgenuss. Ich kann sogar – believe it or not – „Law and Order – Special Victims Unit“ vollkommen unironisch gucken. Und ja, jetzt isses auch egal, jetzt sage ich alles: Irgendwas in mir wäre gerne Mitglied der SPD und der evangelischen Kirche. Auch wenn ich nicht an Gott glaube, mir beim üblichen EKD-Kirchentags-Geschwafel übel wird und die Sozialdemokraten in den letzten 30 Jahren fast immer das Gegenteil von dem getan haben, was ich für richtig halte. Aber es bleibt diese vielleicht naive Sehnsucht, das Positive in den Menschen zu sehen und womöglich sogar zusammen mit ihnen an etwas zu werkeln, was zumindest nicht ganz schlecht ist.

Irgendwie schaffe ich es dann aber doch nicht. Das Einzige, was mir irgendwann gelungen ist, war, in den Schriftstellerverband, den VS, einzutreten. Der VS ist immerhin Teil von „ver.di“, und damit Teil des DGB. Ich bin also DGB-Mitglied. Ich bin Gewerkschaftler! Vermutlich dürfte ich sogar Yasmin Fahimi duzen. Immer wenn irgendwo gestreikt wird, denke ich: Das sind wir, Genossen und Genossinnen! Allein machen sie dich ein! Brot und Rosen! Immerhin.

Zu glauben – wie so manche aus den gebildeteren Schichten – ausgerechnet ich wüsste es besser, ausgerechnet ich hätte einen besseren Geschmack als alle anderen, erscheint mir kurz vor der Querdenkerei und QAnon zu sein. Zumindest formal. Und es wird dem Mainstream ja auch nicht gerecht. Der ist ja durchaus vielfältiger als man denkt. Egal ob im SPD-Ortsverein oder bei Netflix. Um es mit Rio Reiser zu sagen, jemandem, der viel Übung darin hatte, sich aus der Sekte der Wissenden herauszusehnen: „Ich bin anders, weil ich wie alle bin und weil alle anders sind.“
Hartmut El Kurdi

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Augsteins Chauffeur und die Geflüchteten

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Augsteins Chauffeur und die Geflüchteten


Es könnte sein, dass es Nikolaus Blome gar nicht gibt. Betrachtet man die Karriere des Spiegel-Online-Kolumnisten, RTL-Politik-Ressortleiters und ehemaligen stellvertretenden BILD-Chefredakteurs könnte man vermuten, dass es ich bei ihm um einen fiktionalen Charakter handelt. Erfunden vom gelangweilten Spiegel-Erben Jakob Augstein irgendwann Ende der 80er beim nachmittäglichen Gin-Tonic.
In diesem Szenario hätte Augstein damals einen frustrierten Jungschauspieler mit dem Versprechen auf die Rolle seines Lebens aus irgendeiner Provinz-Stadttheater-Kantine herausgeholt, ihm eine lebenslange monatliche Apanage versprochen und ihn seitdem durch die deutsche Presselandschaft geistern lassen. Rollenbeschreibung: „Liberal-Konservativer Journalist“. Ziel: Ridikülisierung dieser Existenzform.
Mit zur Rollenbeschreibung gehörte dann auch, im Fernsehen als Sparringspartner Augsteins aufzutreten, um sich von diesem in gescripteten Wortgefechten vorführen zu lassen; „Blome“ dabei durchaus einigermaßen eloquent, aber doch immer leicht verkniffen wirkend, Augstein den entspannten linksliberalen Hände-in-den Hosentaschen-Lebemann gebend. Neuerdings hat Augstein dieses sadomasochistische „Master and Servant“-Setting offensichtlich noch verschärft: „Blome“ muss ihn jetzt während der Diskussion durch Berlin chauffieren. Dazu wurde die Sendung in „Gegenverkehr“ umbenannt.  Willkommen in der Wortspielhölle. Fehlt nur noch, dass „Blome“ eine Uniform tragen muss. Gelegentlich sitzt allerdings auch Augstein am Steuer, aber das wirkt dann immer als kutschiere der Fürst ausnahmsweise den Knecht durch die Gegend. Aus Spaß. Weil ihm mal wieder so schrecklich öde ist.
Aber vermutlich ist das alles Wunschdenken, vermutlich gibt es diesen „Blome“ wirklich, und vermutlich glaubt er auch ernsthaft, er sei kein Reaktionär, sondern ein rational denkender Mensch, der im Gegensatz zu den linken Träumern die Welt so sieht, wie sie eben ist. Frei von jeder Ideologie. Vor einigen Wochen schrieb Blome in seiner Spiegel-Online-Kolumne: „Natürlich gibt es keine »guten« oder »schlechten« Flüchtlinge, wenn das eine moralische Kategorisierung sein soll. Aber, face it: Im Vergleich der beiden Flüchtlingswellen stechen gruppenspezifische Merkmale und Unterschiede heraus (…) Die ukrainischen Flüchtlinge haben in Summe, ganz pauschal, mehr mit der hiesigen Mehrheitsgesellschaft gemein als die Flüchtlinge und Asylsuchenden aus dem Nahen und Mittleren Osten.“ Die Ukraine, so Blome weiter, sei nämlich Deutschland nicht nur geographisch näher als Syrien, der Irak oder Afghanistan: „Es dürfte auch etwas damit zu tun haben, dass die Ukraine und Deutschland zwei Länder sind, die jedes auf seine Art zum christlich geprägten Kulturkreis gehören …“
Und zack gibt er – selbstverständlich ganz rational und ideologiefrei – den Geflüchteten aus Syrien die Schuld dafür, dass man sie hier nicht so mag. Er raunt: „Wenn sich 2015 nicht wiederholt, dann liegt das weniger an den Deutschen als an den Flüchtlingen. Denn die Flüchtlinge sind anders (…)“ Blome packt die Gelegenheit beim Schopf und missbraucht sowohl die syrischen wie auch die ukrainischen Geflüchteten, um mal wieder das bekannte Glaubensbekenntnis der Konservativen herunterzubeten: Nicht alle Menschen sind gleich! Man hört ihn aber laut und deutlich mit den Zähnen knirschen, wenn er eingestehen muss, dass die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland das anders sehen. Dass der Rechtsstaat –zumindest in der Theorie – auf Seiten der Menschen steht, die die „migrationspolitische Vorneverteidigung“ betreiben, indem sie die Gleichheit Aller postulieren. Blome schreibt tatsächlich und allen Ernstes über diese – ihm spürbar unsympathischen – „einschlägigen Milieus“: „Kein Mensch ist illegal, heißt es dort, und ergo alle Menschen gleich. Aber das sind sie nur vor dem Gesetz.“ Nochmal, falls es grade jemand überlesen hat: Blome ist der Meinung, dass die Menschen „nur vor dem Gesetz“ gleich sind. Sonst nicht.
Diese Sätze lesend hofft man kurz noch einmal, dass dieser Mann wirklich nur ein schlechter Witz Augsteins ist. „Aber, face it“: Nikolaus Blome ist genau so echt wie Marc Felix Serrao, der Chefredakteur der deutschen Ausgabe der „Neuen Züricher Zeitung“, der im Februar in Bezug auf die ukrainischen Geflüchteten schrieb: „Diesmal sind es echte Flüchtlinge.“ Ein, angesichts des Leidens der Menschen im Irak, Syrien und Afghanistan, auch für einen „Konservativen“ wahrlich monströser Satz.   Hartmut El Kurdi

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