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El Kurdis Kolumne im März: mein erstes Mal

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El Kurdis Kolumne im März: mein erstes Mal


Ich möchte nicht missverstanden werden: Poetry-Slam ist ein absolut begrüßenswertes Phänomen! Junge Menschen schreiben, lesen vor, hören zu – was will man mehr in Zeiten wie diesen, in denen 25 Prozent der deutschen Grundschüler*innen Probleme mit Buchstaben und Sätzen haben. Im Ranking der IGLU-Studie liegen wir damit nicht nur, wie zu erwarten war, hinter Hongkong, Norwegen, Dänemark und Singapur, sondern auch hinter Russland, Macau und Österreich!

Insofern: Gelobt sei die Jugend, die sich in der Kulturtechnik des Lesens und Schreibens übt, die Lyrik und Prosa produziert, die mit Worten spielt. Alles gut. Sicher, man fragt sich, warum alle Texte immer im gleichen künstlichen Slam-Singsang vorgetragen werden müssen, und wer diesen wann auf welcher Bühne erfunden hat – aber okay, genauso könnte man fragen, wieso circa 62,7 Prozent der Kulturwissenschaftsstudentinnen einen Micro-Pony kurz unterm Haaransatz tragen oder warum irgendwer glaubt, Süßkartoffel-Pommes wären ein guter Ersatz für Standard-Fritten. Oder gar ein kulinarischer Fortschritt.

Als ich anfing, auf Bühnen vorzulesen, war diese Form der Text-Darbietung noch nicht erfunden. Ich gehöre zur „Lost Generation“: Zu jung für „Social Beat“, zu alt für „Poetry Slam“. Ich bin quasi zwischen die Zeit-Sofapolster gerutscht. Wie schon zuvor, als ich zwischen die Fronten von Progrock und Punk geriet. Oder politisch in die Twilight-Zone zwischen K-Gruppen und Grüne. Nur für eine Sache befand ich mich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort: Für die Ausstrahlung einer Sitcom über einen abgestürzten Außerirdischen mit Katzenappetit. Das ist die einzige Generationen-Community, in die ich mich ohne Bedenken einordnen würde: Die „Generation ALF“. Weswegen ich in meinem Kopf bis heute vieles im Tonfall und mit der Stimme von Tommy Piper kommentiere. Aber darüber rede ich nur mit meiner Therapeutin.

Dennoch dachte ich vor einiger Zeit: Einmal muss ich das machen. Einmal in meinem Leben muss ich an einem Poetry-Slam teilnehmen. Also ging ich ins Kulturzentrum meines Vertrauens, ließ mich auf die Liste setzen und enterte den Backstagebereich. Als ich den Raum betrat, hörten alle auf zu reden und schauten mich an, als sei ich der Rektor, der unangekündigt im SV-Raum erscheint, um zu kontrollieren, ob da nicht vielleicht gekifft wird.

Ich sagte: „Hallo, ich bin Hartmut, ich lese heute auch.“ Die Gesichter entspannten sich. Die Gespräche wurden fortgesetzt. Um mich herum. Mit mir wurde nicht geredet. Vermutlich aus Respekt vor dem Alter. Vielleicht hatten sie auch Angst, ich würde Sütterlin oder Fraktur sprechen. Keine Ahnung. Irgendwann erbarmte sich eine junge Frau und sprach mich auf meine „Vintage-Freitag-Tasche“ an: „Die ist doch bestimmt 20 Jahre alt?“ In meinem Empfinden hatte ich sie mir erst vorgestern gekauft. Bei einem Basel-Besuch. Dann fiel mir ein, dass der Grund für den Besuch eine Lesung gewesen war, zu der mich mein Freund Mazze, damals Dramaturg am dortigen Stadttheater, eingeladen hatte. Es musste also 2002/2003 gewesen sein. „Ja, kommt ungefähr hin“, antworte ich. Sie nickte anerkennend. „Ey, wenn du die mal verkaufen willst …!“ – „Im Moment nicht, aber klar, dann sag ich Bescheid!“

Mein Auftritt rückte näher. Wahrscheinlich wirkte ich etwas nervös. Zumindest sprach mich ein anderer Teilnehmer – „Finn“, so Anfang zwanzig – freundlich und in vermutlich beruhigender Absicht an: „Bist Du aufgeregt? Ich hab Dich noch nie bei einem Slam gesehen“. – „Ist auch mein erster.“ – „Cool, neulich war ich bei einem Slam in Osnabrück, da war einer, der war siebzig oder so. Finde ich krass, wenn man das in dem Alter noch probiert.“ Ich nickte. Ich fands auch krass.

Ich zog meinen Text aus meiner „Vintage-Freitag-Tasche“. Finn zeigte auf die Blätter. „Ich mache meine Texte immer auswendig. Das würde ich dir auch empfehlen. Da ist man lockerer und viel freier.“ – „Nee klar“, sagte ich und beschloss meine Rolle als Senioren-Slammer noch auszubauen, „aber weißte, das Gedächtnis …“ – „Verstehe“, antwortete Finn „vorlesen geht natürlich auch“. Er gab mir dann noch ein paar Tipps für meine Performance, über den Umgang mit dem Publikum, den Sinn und Unsinn von Pausen und noch einiges mehr. Schließlich war er schon mindesten eineinhalb Jahre im Business. Ich bedankte mich höflich. Und dann ging ich auf die Bühne und las vor, wie ich eben so seit über 30 Jahren vorlese.

Ich wurde Vorletzter. Ich hätte mal lieber auf Finn – den souveränen Sieger des Abends – hören sollen.

 

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Januar

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El Kurdis Kolumne im Januar


Sekten, Sekten, nichts als Sekten

Spätestens seit der Pensionierung Rolf Seelmann-Eggeberts gelte ich als der führende „Haus Windsor“-Experte Niedersachsens. Oder zumindest Hannover-Lindens. Auch an dieser Stelle habe ich mich schon mehrfach zum britischen Königshaus geäußert, von der Personalunion – in der zunächst der Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, dann der König von Hannover gleichzeitig der König von Großbritannien war – über die kolonialen Verbrechen des Empires bis hin zu den antroposophisch-homöopathischen Tendenzen König „Prinz“ Charles III. Immer mal wieder fand auch meine beachtliche Sammlung von Teedosen und -tassen mit royalen Motiven Erwähnung in dieser Kolumne.

Selbstverständlich lese ich alles, was in Buchform über die Royals erscheint. Und zwei Mal im Monat suche ich eine Arztpraxis auf, um dort die Fachpresse zu studieren. Seit einigen Jahren habe ich mir zudem einen Google-Alert zu den Suchbegriffen „Balmoral“ und „adelige Gendefekte“ eingerichtet. Im Zuge dieser Recherchen stieß ich vor zwei Jahren auf einen Artikel der US-Autorin Amanda Montell, in dem diese die These aufstellte, das Haus Windsor sei eine Art Sekte. In beiden Phänomenen gebe es: „Extreme Exklusivität, bizarre Regeln, Geheimhaltung, Lügen, Isolation, psychologische Kriegsführung und eine Wir-gegen-die-anderen-Haltung.“
Auf diesen Gedanken war ich – obwohl selbst bei den Zeugen Jehovas sektensozialisiert – noch nie gekommen, fand ihn aber sofort einleuchtend. Dann las ich die Memoiren von Prinz Harry, in denen er die Royals sogar als „Todeskult“ bezeichnete: „Schloss Windsor selbst war eine Gruft, die Wände voller Ahnen. Der Tower of London wurde von Tierblut zusammengehalten, das von den Erbauern vor tausend Jahren verwendet wurde, um den Mörtel zwischen den Ziegeln zu härten.“
Plötzlich wurde mir klar, warum ich mich seit Jahren weigerte, in den europäischen Hochadel einzuheiraten. Theoretisch. Praktisch stellte sich die Frage zugegebenermaßen noch nie. Egal. Aus dem gleichen Grund trete ich übrigens auch in keine Partei ein. Einmal dafür sensibilisiert – erkennt man Sektenstrukturen überall. Was nicht wirklich hilfreich ist, wenn man zu paranoidem Denken neigt …

Menschen treten zum Beispiel in die SPD oder bei den Grünen ein, weil sie für eine fortschrittliche Migrationspolitik sind – nicht nur aus humanistischen Gründen, sondern auch weil sie wissen, dass wir Arbeitskräfte brauchen und dass man sich in einer globalisierten Welt nun mal nicht abschotten kann. Dafür schien sich Rot/Grün in den letzten Jahren stark gemacht zu haben. Dann änderten die Chefetagen die Lehre. Es ist kein radikaler 180-Grad-U-Turn (wie z.B. bei den Sozialdemokraten in Dänemark), aber doch eine graduelle Tendenzwende. Klar, Migration immer noch, irgendwie, aber anders. Weil die Bürger*innen im Land das angeblich wollen, die Kommunen stöhnen, weil die rechte Opposition das Thema in Wahlkämpfen ausschlachtet, weil die Koalition sowieso wackelt … kurzum: weil man weiterregieren möchte. Also werden die Regeln angepasst, Ziele umdefiniert und ein neuer Ton wird angeschlagen. Bei uns im Zeugen-Jehovas-Königreichssaal wurde eine solche „Korrektur“, ein solcher Schwenk im Glaubensgefüge als „neues Licht“ bezeichnet. Und schwupps verteidigen (fast) alle Mitglieder die faktische Abschaffung des Asylrechts und finden es okay, dass der Kanzler sagt – so Law-and-Order-mäßig wie Olaf Scholz das eben kann – wir müssten nun „im großen Stil abschieben“. Beziehungsweise: Die rot/grünen Abgeordneten leugnen natürlich, dass das Asylrecht abgeschafft wird und sagen, man wolle ja nur die … die …. die Nichtberechtigten … und Straftäter … also die Sünder, die Bösen … in die Hölle … äh … zurück nach … na, ihr wisst schon…

Ich möchte jedoch auf keinen Fall alle Parteimitglieder solchen Sektendenkens bezichtigen. Ich kenne einige sehr ernsthafte und engagierte Menschen in verschiedenen Parteien, die ihrer Führung gegenüber sehr kritisch sind. Leider jedoch machen diese Leute selten wirklich Karriere in ihrem jeweiligen Verein. Oder ausnahmsweise doch mal – und dann wandeln sich spätestens im Zuge dessen zu strammen Parteisoldaten.
Aber vielleicht erübrigt sich das alles demnächst auch von selbst. Auch das passt zum Thema. Montell benennt als Sekten-Kriterium ja auch eine „extreme Exklusivität“. Und z.B. die 8,4 Prozent für die SPD bei der diesjährigen Landtagswahl in Bayern oder die 4,99 Prozent der Grünen 2022 im Saarland sind schon – das muss man zugeben – sehr exklusiv. Leider.

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Juni

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El Kurdis Kolumne im Juni


Enthemmte Pop-Liberale

Viele akademische Mittelschichtler nörgeln zurzeit geschmäcklerisch an der „Letzten Generation“ herum, weil die Aktivist*innen sich angeblich wie eine „Sekte“ benehmen würden. Überhaupt sei der ganze Gestus irgendwie „para-religiös“.
Ich verstehe, was damit gemeint ist.
Und ja, dieses Verhalten finde ich auch hin und wieder unangenehm. Aber meine Güte, ich finde sehr viele Dinge unangenehm, ohne sie gleich komplett ablehnen oder mich darüber erheben zu müssen.
Zum Beispiel kann ich die Partei-Loyalität vieler Politiker*innen kaum ertragen – also die Praxis, dass eigentlich kluge und vernünftige Leute jeden dummen Partei- oder Regierungsbeschluss verteidigen oder sogar versuchen, ihn als Fortschritt zu verkaufen. Wo doch jeder sehen kann, dass er Mist ist.
Die Wahrheit ist meistens: Sie konnten sich einfach nicht durchsetzen oder wurden mal wieder vom Koalitionspartner über den Tisch gezogen. Trotzdem stellen sie sich hin und sagen: Das ist ein guter Kompromiss! Nee, ist es nicht. Aber mehr war halt nicht drin. Warum kann man das nicht zugeben? Und obwohl mir das auf den Senkel geht, gehe ich wählen. Immer wieder. Weil ich manche dieser Politiker*innen trotzdem kompetent finde und glaube, dass sie wirklich Gutes bewirken wollen. Ähnlich geht es mir mit der „Letzten Generation“. Mir gefällt nicht alles an ihnen, aber sorry: Sie haben einfach recht. Es muss was passieren. Und zwar jetzt. Zudem habe ich nichts gegen radikale Aktionen, wobei ich Straßenblockaden und das Verspritzen von ein bisschen Farbe, ehrlich gesagt, nur mäßig radikal finde.

Das Gejammer vieler Autofahrer*innen empfinde ich hingegen als extrem albern: Selbst im unblockierten Alltag kommen die Automobilisten mit ihren Karren oft nicht voran, weil der Verkehr sich selbst zum Erliegen bringt. Rollen sie dann doch mal, cruisen sie im Anschluss stundenlang auf Parkplatzsuche durch‘s Wohnviertel. Werden also quasi von ihren Mitparkern blockiert. Was soll also die Aufregung um ein paar Leute, die den üblichen Verkehrs-Wahnsinn nur geringfügig wahnsinniger machen? Dazu kommt: Ich habe beschlossen, die „Letzte Generation“ mindestens so lange zu verteidigen, wie die Kampagnen-Maschine im Axel-Springer-Haus gegen sie raucht und rattert.

Aktivisten von der Fahrbahn loszureißen & wegzutragen ist eindeutig zulässig, auch wenn das wegen des Klebers zu erheblichen Handverletzungen führen sollte“. Das twitterte kürzlich Ulf Poschardt, die Strafrechts-Professorin Elisa Hoven zitierend. Dem Zitat stellte der WeltN24-Chefredakteur allerdings einen eigenen Satz voran: „notwehr ist keine selbstjustiz“. Im bekannten modisch-hippen Poschi-Kleinschreib. Wodurch er klarmachte: Das ist seine Meinung, seine Schlussfolgerung aus den Äußerungen Hovens.

Nochmal deutlich: In einer Situation, in der immer mehr amoklaufende Autofahrer*innen glauben, sie hätten das Recht, gewaltlose Demonstranten*innen zu treten, zu schlagen, an den Füßen über den Asphalt zu schleifen oder anzufahren, findet Poschardt es offensichtlich legitim, wenn Blockierende „erheblich“ verletzt werden. Notwehr eben. Nur nebenbei: Von den angegriffenen Demonstrant*innen hat sich bis jetzt keine*r ge(not)wehrt, niemand hat zurückgeschlagen oder -getreten. Was ich sehr bewundernswert finde. Zurück zu Poschi und seinem Arbeitsgeber:

Ich glaube, dass Springer damals (…) oft journalistische Standards verletzt hat. Und sicherlich auch ein gesellschaftliches Klima erzeugt hat, in dem Aggressionen in bestimmten Schichten der Bevölkerung gegen (…) diese Bewegung verstärkt wurden.“ So gab Poschardts Chef, der milliardenschwere Springer-Mogul Mathias Döpfner vor einiger Zeit herum-eiernd zu, dass Springer an den Schüssen auf den APO-Aktivisten Rudi Dutschke im Jahr 1968 eine Mitschuld trägt.

Aber der Springer-Verlag von heute sei nicht mehr der Springer-Verlag von damals, betont Döpfner. Stimmt. Im Gegensatz zu damals heizen keine grau beanzugten Reaktionäre mit Kriegshintergrund die Stimmung gegen die Demonstranten an. Die heutigen Aggressionsverstärker sind enthemmte Pop-Liberale, die vor allem beleidigt sind, dass es Menschen gibt, die sie und ihre Statussymbole einfach nur albern finden. Nochmal @ulfposh: „bürgerkinder als neid-brigaden – weil es bequemer ist zu randalieren und vom elfenbeinturm bejubelt zu werden, als hart zu arbeiten um sich prada, rolex oder louis vuitton zu gönnen.“ Poschardt beweist jeden Tag aufs Neue, dass es möglich ist, mehr FDP-Klischee zu sein als Christian Lindner himself. Respekt!

Hartmut El Kurdi

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El Kurdis Kolumne im Juli

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El Kurdis Kolumne im Juli


Stell dir einfach vor, wir hätten …

Weiß eigentlich jemand, wann es angefangen hat, dass Deutsche sich zur Begrüßung umarmen und küssen? Als ich ein Teenager war, gab es das auf alle Fälle noch nicht. Wenn wir Pubertanten uns damals begegneten, nickten wir uns cool zu und sagten „Hi“. Bestenfalls machten wir kurz Augenkontakt und hoben vielleicht – möglichst ohne sichtbares emotionales Engagement – ganz leicht die Hand. So als wolle man winken, habe es sich aber kurz nach Beginn der Bewegung anders überlegt. Wie das eben junge Menschen tun, wenn sie noch nicht wissen, ob dieser Körper nun endgültig ihnen gehört, oder ob er ihnen nur versehentlich zugeteilt wurde, und sie ihn morgen wieder zurückgeben müssen. Erwachsene hingegen schüttelten sich zur Begrüßung mit festem Griff die Hände. Das war‘s. Einzige Ausnahme: Man verabschiedete am Bahnhof oder Flughafen einen Blutsverwandten – oder jemanden, mit dem man regelmäßig Körperflüssigkeiten austauschte – zu einer langen Reise. Oder sah ihn nach einer solchen wieder. Dann gab es auch mal kurzen Körperkontakt in der Öffentlichkeit.

Mit Verwunderung nahmen wir die Begrüßungs-Rituale anderer Völker zur Kenntnis: Zwei angedeutete Wangenküsse in Griechenland, Italien und Frankreich (außer in Paris, da gab‘s angeblich vier), drei „Airkisses“ in Belgien; und in der Schweiz je nach Region mal zwei, mal drei. Und dann war da noch der sozialistische Bruderkuss. Ein Begrüßungsritual aus der Arbeiterbewegung, mit dem die Küsser ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der Kommunisten signalisierten. In Vollendung von Erich Honecker und Leonid Breschnew 1979 anlässlich der Feier zum 30. Jahrestag der DDR praktiziert: links, rechts, links und dann mit Schmackes auf den Mund. Manche kennen vielleicht das ikonographische Foto dieses Motivs von Régis Bossu.

Jenseits des ZKs der SED aber wurde in Deutschland außerhalb der Familie weder geküsst noch umarmt. Das Land war geprägt von stoffelig-kartoffeliger Stock-im-Arsch-Steifheit und immer einer Armlänge Distanz. Das muss man im Übrigen weder gut noch schlecht finden oder anderweitig bewerten. Es war eben so. Obwohl ich ja Halb-Orientale bin, kam ich damit gut zurecht. Dennoch beugte ich mich dem irgendwann einsetzenden sozialen Druck zur Drückerei. Aber wenn ich in ein Land zöge, in dem man sich zur Begrüßung an die Geschlechtsteile fasste – ohne dass das als Belästigung gelten würde –, gewöhnte ich mich vermutlich auch daran. Ehrlich gesagt kommen mir die heute üblichen „hugs and kisses“ auch oft noch so vor, als griffe mir jemand ungefragt ans Skrotum. Aber man will ja nicht als Sonderling oder Sozial-Schrulle gelten, also lasse ich es geschehen. Oder ließ.

Corona war diesbezüglich ein Segen für Menschen wie mich. Auf einmal war Drück-und Küss-Pause. Und schnell entwöhnte ich mich wieder. Wie in meiner Jugend wurde wieder genickt, gewunken – und bei engen Freunden auch mal die Ghettofaust oder das Ellenbogen-Petting angeboten. Alles gut, alles entspannt. Als ich im Sommer 2021 nach langer Zeit mal wieder meinem Freund Ralf Sotscheck begegnete – der seit Jahrzehnten in Irland lebt und von dort für die TAZ berichtet –, hatte ich außer Freundin und Tochter seit eineinhalb Jahren niemanden mehr umarmt. Und dabei, ehrlich gesagt, nichts vermisst. Nun breitete Ralf seine Arme aus, um mich an sein großes deutsch-irisches Herz zu drücken, und obwohl ich wusste, dass wir beide durchgeimpft waren, blockierte etwas in mir. Zunächst schoss mir das Credo der Hauptfigur aus Herman Melvilles Erzählung „Bartleby der Schreiber“ durch den Kopf: „I would prefer not to!“ Aber das traf es nicht. Ohne zu wissen, was herauskommen würde, öffnete ich den Mund – und stammelte: „Ralf … ich glaub, ich bin noch nicht soweit.“ Ralf – eine Seele von Mensch – schaute mich verwirrt an. Aber nachsichtig wie er ist, vergab er mir diesen Affront. Als ich das am Telefon wiederum meinem Freund Matthias erzählte, der in seiner Funktion als Theater-Dramaturg nochmal in besonderer Form Körperlichkeit ausgesetzt ist, sagte dieser: „Darf ich das auf‘n T-Shirt drucken?“ „Klar“, sagte ich. Und dann entwarfen wir eine komplette Distanz-Kollektion. Neben den Shirts mit „Sorry, ich glaub, ich bin noch nicht soweit!“ designten wir – auf irgendsoeinem Online-Klamotten-Design-Portal – Hemdchen mit: „Nee komm, lass ma!“, „Nicht anfassen!“, „XXX“ und „Stell dir doch einfach vor, wir hätten …“. Ich gehe mal davon aus, dass die Kollektion demnächst im Stadtkind-Merchandise-Shop erhältlich sein wird.

Hartmut El Kurdi

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