Das entzweite Land. Ein Weckruf

Das entzweite Land. Ein Weckruf

Die Gesellschaft ist zutiefst gespalten. Aus Gegnern wurden Feinde. Aus demokratischem Diskurs wurde ideologischer Stellungskrieg. Aus Meinungsdifferenz Hass. Sicher, früher war nicht alles gut, aber doch vieles besser.
Was waren das doch für Zeiten, als man hierzulande noch gesittet diskutierte?!  Wich man in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern des letzten Jahrhunderts von der Norm ab, wurde einem nicht etwa wie heute das Existenzrecht abgesprochen, sondern man bekam lediglich einen Umzug in einen anderen Teil Deutschlands vorgeschlagen: „Geh doch nach drüben!“ hieß es da freundlich. Gemeint war mit „drüben“ Ostdeutschland, wo es sich ja – wenn man dem durchschnittlichen Montagsspaziergänger in Dresden oder Chemnitz Glauben schenkt – prima leben ließ. Diese Relokalisierungsanregung wurde oft mit einer beeindruckend hilfsbereiten Verve vorgetragen; man spürte, dass die den Vorschlag machende Person am Umzugstag bestimmt mit anpacken, unentgeltlich ihren VW-Bulli zur Verfügung stellen oder vielleicht sogar gleich ein professionelles Umzugsunternehmen bezahlen würde. Hallo Nachbar, Dankeschön! So war das damals in der alten BRD: Alle für einen, einer für alle!
Besonders Langhaarige, Hippies, „Gammler“, später Punks, aber auch Homosexuelle, Ausländer oder behinderte Menschen erinnern sich noch an eine tolerante Gesellschaft, in der ihnen niemand vorschrieb, wie oder was sie zu sein hatten. Statt Bevormundung hörten sie sachliche Feststellungen wie: „So was hätte es unter Adolf nicht gegeben“ oder „Dich hamse bei Hitler vergessen zu vergasen“.  Bemerkungen, in denen vor allem die unbändige Freude darüber zum Ausdruck gebracht wurde, dass diese dunklen Zeiten vorbei waren und nun endlich Vielfalt herrschte.
Es überrascht deswegen nicht, dass auch die politische Elite jener Jahre mitunter zwar inhaltlich hart, aber im Ton stets verbindlich und höflich um den besseren Weg rang. Oft lockerten die Politiker angespannte Situationen mit einem kleinen Scherz auf, wie Franz Josef Strauß, als er sagte: „Ich will lieber ein kalter Krieger sein, als ein warmer Bruder.“ Da schmunzelte die ganze Republik. Überhaupt war F.J. Strauß ein Meister der Deeskalation: Seine Gegner*innen verärgerte er nie mit den heute üblichen Beleidigungen, Angriffen unter der Gürtellinie oder Beschimpfungen, sondern überraschte sie mit putzigen Tiervergleichen. Ob er nun linke Schriftsteller*innen und Intellektuelle per se als „Ratten und Schmeißfliegen“ oder einen einzelnen Autor als „Dreckschwein“ bezeichnete – stets wies er seinen Kritikern damit eine wichtige Rolle im Ökosystem zu.
Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus. Dementsprechend ging auch der politische Gegner mit Strauß und anderen Unionspolitikern immer respektvoll um. So nannte der langjährige Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, Herbert Wehner, Strauß zum Beispiel einen „geistigen Terroristen“. Selbstverständlich war das von Wehner, der seine politische Laufbahn bei der „Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands“ begonnen hatte, als Maximal-Kompliment gemeint.
Dem ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Willy Brandt zollten CDU-Mitglieder immer wieder Respekt für seine widerständische Haltung während der Nazi-Zeit; Herbert Frahm, wie der spätere Kanzler ursprünglich hieß, war ja bekanntermaßen nach Norwegen geflohen, hatte dort den neuen Namen Willy Brandt angenommen und organisierte von Oslo aus Widerstands-Aktionen in und gegen Deutschland. Daran und an Brandts uneheliche Geburt erinnerten Unionspolitiker immer wieder, indem sie ihn bei seinem Geburtsnamen nannten. So sprach Konrad Adenauer vom „Herrn Brandt alias Frahm“. Und der CSU-Bundestagsabgeordnete Richard Jaeger sagte über Brandt: „Wenn es ihn, wie weiland Adolf Hitler, dessen Familienname eigentlich Schicklgruber war, danach gelüstet, unter einem fremden Namen in die Weltgeschichte einzugehen, so ist dies das Geringste, was uns an seinem Vorhaben stören könnte.“
Brandt bedankte sich für diese Geste der Hochachtung, indem er den damaligen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler im Fernsehen lobte: „Ein Hetzer ist er! Seit Goebbels der schlimmste Hetzer in diesem Land!“ Er verglich Geißler also mit einem der erfolgreichsten Männer der deutschsprachigen PR-Geschichte. Tiefer kann eine professionelle Verbeugung nicht sein.
Klar ist: Wir waren schon einmal weiter. Dorthin müssen wir zurück. Zu dieser Kultur der wertschätzenden Debatte, der gegenseitigen Anerkennung. Reichen wir uns die Hände!  ● Hartmut El Kurdi


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