Tag Archive | "Stephan Weil. Interview"

Ein letztes Wort im März

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Ein letztes Wort im März


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, die Demonstrationen gegen den Rechtsruck in Deutschland und gegen die AfD gehen immer weiter. Das stimmt optimistisch, oder?
Ja, das ist wirklich eine ganz große Ermutigung. Wir hatten eine Phase, in der wir das Gefühl hatten, dass extremistisches Gedankengut in unserer Gesellschaft so gut wie unwidersprochen stetig zunimmt. Und jetzt wird sichtbar, dass es viele, viele Menschen gibt, die sich dieser Entwicklung entgegenstellen und sich für ein tolerantes und solidarisches Miteinander einsetzen.

Waren Sie überrascht von der Größe der Demonstrationen?
Ja! Das war wirklich gigantisch neulich auf dem Opernplatz. Die Debatte um dieses Treffen der extremen Rechten mit kruden Ideen zu einer Remigration war offensichtlich der Tropfen, der bei ganz vielen Leuten das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Jung und Alt gehen nun auf die Straße, um zu zeigen, dass sie solche Ideen in Deutschland nicht wollen. Ich wünsche mir sehr, dass die Menschen weiter Haltung zeigen werden, auch im Alltag. Es muss jetzt weitergehen, wenn auch nicht mit allwöchentlichen Demonstrationen, aber beispielsweise indem man sich einmischt und protestiert bei abfälligen Bemerkungen über Menschen, die irgendwie anders sind.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie aus diesen Demonstrationen?
Zunächst mal – und das teile ich mit sehr vielen Menschen – habe ich im Laufe des Jahres 2023 wirklich oft gedacht, dass das alles doch gar nicht wahr sein kann, was da passiert. Und jetzt gehen tausende und abertausende Menschen auf die Straße und eben nicht nur jene, die sich ohnehin schon regelmäßig an Demonstrationen beteiligen. Ich habe auf dem Opernplatz ganz viele gesehen, die vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben auf einer Demonstration waren. Und wir haben überall im Land Demonstrationen erlebt, auch in kleinen Kommunen. Es gibt offenbar doch eine sehr gefestigte demokratische Substanz in unserer Gesellschaft. Das hat auch den Menschen aus anderen Kulturen, die bei uns leben, Mut gemacht. Und es ist ein starkes Zeichen an die Wankelmütigen. Das heißt nicht, dass ich glaube, dass die AfD nun bald Geschichte sein wird. Aber für die, die gerade mit der AfD liebäugeln, waren das wichtige Signale. Ich wünsche mir sehr, dass zum Beispiel auch am 23. Mai zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes wieder ganz viele Gesicht zeigen und dieses Jubiläum feiern werden. Ich bin überzeugt: unser Grundgesetz ist die beste Grundlage für ein gutes Zusammenleben.

Die Union zieht aus den Demonstrationen andere Schlussfolgerungen …
Sie meinen, dass diese Demonstrationen sich auch gegen die Politik der Ampel richten. Da ist der Wunsch der Vater des Gedankens. Die Demonstrierenden wenden sich gegen einen Rechtsruck und gegen die AfD. Natürlich gibt es Kritik an der Ampel, aber diese Demonstrationen haben einfach ein anderes Thema. Ein verbindendes Thema. Es war zum Beispiel sehr beeindruckend, dass der Präsident der Unternehmerverbände, die rund 150.000 Unternehmen vertreten, auf einer Kundgebung in Hannover geredet hat. Das war etwas völlig Neues. Sehr viele Wirtschaftsunternehmen positionieren sich momentan ganz klar. Und was die CDU angeht, da habe ich zumindest für Niedersachsen den Eindruck, dass es auch deren Anhängerschaft um die Demokratie geht und nicht darum, den Regierenden eins auszuwischen. Es waren ja auch viele Konservative bei den Demos dabei.

Im Bund ist der Grundsound der Union aber ein anderer.
Ja, leider. Es gab zum Beispiel eine sehr würdevolle Stunde zum 75. Jahrestag der Ausschwitz-Befreiung und danach hat Friedrich Merz direkt auf die Ampel eingedroschen, als ob der Bundestag ein Bierzelt wäre. Sein Ton ist sehr oft sehr verfehlt.

Was sagen Sie denn zu seinem Vorwurf, die Regierung würde mit dem Neuzuschnitt von Wahlkreisen der Demokratie schaden?
Ein kompletter Blödsinn. Und auch hier ist es vor allem wieder die Tonalität. Merz spricht von Wahlrechtsmanipulation. Wirklich Unfug – quasi eine alternative Realität mit alternativen Fakten. Und letztlich ist er es dann selbst, der mit solchen Vorwürfen der Demokratie schadet. Ich denke, dass es zu oft mit ihm durchgeht, dass er eine viel zu kurze Zündschnur hat für das Amt, das er anstrebt.

Zurück zum Rechtsruck. Dieser Fokus auf die Zuwanderung und insbesondere auf die Probleme, Stichwort Überforderung, andere Kultur, kleine Paschas, soziale Hängematte, Sozialtourismus usw., das war in den letzten Monaten immer wieder Thema und alle haben plötzlich Härte signalisiert. Auch Ihre SPD hat sich nach meinem Eindruck angesteckt. Teilen Sie meinen Eindruck?
Nein, zumindest nicht, was die SPD angeht. Die SPD sagt klar, dass, wer schutzbedürftig ist, in Deutschland weiter Schutz bekommen soll. Punkt. Gar keine Diskussion. Wir halten an unseren humanitären Ansprüchen fest und schützen an dieser Stelle auch unsere Verfassung. Und etwa 60 bis 70 Prozent derjenigen, die zu uns kommen, sind schutzbedürftig. Sie haben einen Asylanspruch und das müssen wir stemmen, solange es uns nicht gelingt, die Menschen im Europa besser zu verteilen. Die anderen 30 bis 40 Prozent aber haben kein Bleiberecht, sie sind nicht schutzbedürftig. Und wenn wir unseren humanitären Ansprüchen gerecht werden wollen, dann müssen wir auch bei diesen 30 bis zu 40 Prozent konsequent sein. Es ist nicht so, dass ich kein Verständnis für Leute habe, die auf der Suche nach einem besseren Leben zu uns kommen, aber ohne Bleiberecht geht das bei uns nicht. Wir stellen fest, dass viele Kommunen einfach nicht mehr wissen, wo sie die Menschen unterbringen sollen. Und wir müssen zusehen, dass die Aufnahmebereitschaft bei den Bürgerinnen und Bürgern wieder auf ein Niveau kommt, das wir brauchen, um bei der Integration erfolgreich sein zu können.

Wenn man das alles ruhig und differenziert diskutiert, ist das für mich in Ordnung. Aber wenn nur noch Schlagwörter gesetzt werden, wenn über einen Kamm geschoren wird, wenn es populistisch wird, dann finde ich das höchst problematisch.
Das ist es auch. Wir müssen bei allen notwendigen Diskussionen immer im Hinterkopf haben, dass es um Menschen geht. Um Schicksale.

Was ich meine, ist beispielsweise so ein Satz: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben.“ Das sagt Olaf Scholz auf einem Spiegel-Titel …
So einen Satz werden Sie von mir nirgends lesen. Denn wir werden das Thema der Migration ja nicht über Abschiebungen lösen. Wir müssen mehr von denjenigen, die zu uns kommen, auch tatsächlich wieder zurückschicken, um bei der Integration erfolgreich bleiben zu können. Aber das ist ein schwieriges Thema mit vielen Facetten. Oft haben die Betroffenen keine Pässe, wir wissen also nicht, aus welchem Land sie stammen. Oder die Herkunftsländer weigern sich, die Leute zurückzunehmen. Und dann ist eine Ausweisung schlicht nicht möglich. Das Thema ist nicht einfach und eignet sich darum auch nicht für kurze, plakative Sätze.

Ich hätte mir einen ganz anderen Satz gewünscht: „Wir müssen endlich im großen Stil die Leute an die Hand nehmen, zugewandt sein, sie gut integrieren!“ Wie wäre es mit so einem Spiegel-Titel?
Ich unterstreiche das sofort für alle Menschen, die ein Schutzrecht haben. Und da können wir in der Tat auch noch viel besser werden, wenn ich zum Beispiel an die Integration in den Arbeitsmarkt denke. Da sind wir viel zu dogmatisch. Ich finde nicht, dass alle erst gut unsere Sprache lernen müssen, bevor sie arbeiten können. Ich kann ganz passabel Englisch sprechen, aber das habe ich nicht primär in der Schule gelernt, sondern als ich gezwungen war, Englisch zu sprechen. Für die Integration in unsere Gesellschaft ist es einfach wichtig, dass die Leute früher anfangen zu arbeiten. Und wenn diese Menschen dann für den eigenen Lebensunterhalt sorgen, steigt auch die Akzeptanz bei den anderen. Bei der Integration in den Arbeitsmarkt müssen wir noch eine Schippe drauflegen.

Ich habe für mich übrigens auch eine Schlussfolgerung aus den Demonstrationen. Und zwar, dass es sich vielleicht lohnen könnte, ausnahmsweise mal wieder in der demokratischen Mitte zu fischen. Oder bei den Nichtwähler*innen. Was meinen Sie?
Ich denke, dass die SPD genau das tut.

Na ja, Olaf Scholz habe ich ja eben zitiert. Wobei Sie Recht haben, gegen Friedrich Merz nimmt sich das eher harmlos aus. Der bestätigt gerne mal genau das, was die AfD sagt, und auch der Sound ist oft recht ähnlich. Müssen sich da jetzt nicht alle mal wieder besinnen?
Ich wünsche mir das sehr. Denn es gehört sich einfach nicht, aus Ängsten Kapital zu schlagen. Nicht wenige Menschen haben tatsächlich Angst. Angst, dass wir die Probleme nicht mehr im Griff haben. Diese Angst können wir nur lindern mit guter Politik. Wir sollten die Ängste aber nicht noch verstärken durch populistische Zuspitzungen. Das zahlt am Ende auf das falsche Konto ein.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Januar

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Ein letztes Wort im Januar


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Mal wieder in nächtlichen Sitzungen, die es eigentlich nicht mehr geben sollte, hat sich die Ampel in Berlin nun über den Haushalt 2024 geeinigt. Sollte man für gute Entscheidungen und Kompromisse nicht eigentlich ausgeschlafen sein?
Ja, nach meinen Erfahrungen ist das besser. Ich persönlich habe Nachtsitzungen in schlechter Erinnerung. Sie sind wahnsinnig anstrengend und natürlich leidet am Ende oft die Qualität. Aber diese Nachtsitzungen sind durchaus Teil der politischen Kultur in Berlin, nach dem Motto: Alles, was vor Mitternacht fertig ist, ist keine echte Arbeit. Das ist sicherlich ein bisschen überspitzt formuliert, aber einer der Unterschiede zwischen Bundes- und Landespolitik.

Und darum hat es Sie nie in die Bundespolitik gezogen …
(Lacht) Da gab es noch ein paar mehr Gründe.

Können Sie mir erläutern, was diese Einigung nun im Einzelnen bedeutet? Wo genau wird gestrichen und gekürzt?
Wir sitzen ja hier Mitte Dezember, das heißt, die Einigung ist erst einen Tag alt. Und entsprechend ist noch vieles unklar. Es gibt unterschiedliche Meldungen aus den verschiedenen Bereichen und aus diversen Quellen. Ein Wert an sich ist tatsächlich zunächst mal diese Einigung. Denn diesen Monat zwischen dem Karlsruher Urteil und der Einigung habe ich als quälend empfunden. Und das zum Ende eines Jahres, in dem ohnehin die demokratische Ordnung unter Druck geraten ist. Das war nicht gut. Bei der Einigung ist nun vieles dabei, was ich richtig finde. Aber auch manches, was ich falsch finde. Ich bin mir sicher, wir werden nach unserem Gespräch und in den nächsten Tagen und Wochen noch zahlreiche Diskussionen über viele einzelne Aspekte erleben. Manches scheint mir da nicht recht zusammenzupassen. Wenn zum Beispiel gesagt wird, man wolle den Weg zur Klimaneutralität fortsetzen, dann passt dazu nicht die kurzfristige Streichung der Förderung für Elektroautos, während gleichzeitig der Strom teurer gemacht wird. Beides zusammen macht die Elektromobilität nicht attraktiver. Wir haben momentan bereits eine Nachfrage-Delle, es werden nicht so viele E-Autos gekauft, wie man sich das eigentlich gewünscht hätte. Oder ein zweites Beispiel: Wenn man von jetzt auf gleich bestimmte Förderungen komplett einstellt, dann haben die Betroffenen natürlich ebenfalls von jetzt auf gleich Probleme – die man vermeiden könnte. Stichwort Agrar-Diesel. Das Mindeste wäre aus meiner Sicht, dass man einen vernünftigen Übergangszeitraum anbietet, in dem nach Alternativen gesucht werden kann. Elektro-Trecker gibt es ja noch kaum und auch Wasserstoffantriebe stecken noch in den Kinderschuhen. Jedenfalls führt ein kurzfristiger Förderungsstopp immer zu Problemen.

Das sorgt dann wieder für die üblichen Erregungswellen.
Die man vermeiden könnte. Also, es gibt bei dieser Einigung noch so einiges, was mich nicht überzeugt. Und ich hoffe, dass sich einmal mehr das Strucksche Gesetz bewahrheitet, nämlich dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineinkommt.

Wie ist es mit den Kürzungen im Sozialbereich. Ist das jetzt abgewendet. Oder droht da noch was? Die Opposition zeigt mit dem Finger drauf. Die FDP wäre sofort dabei.
Ich glaube nicht, dass an der Stelle noch etwas droht. Die drei Partner haben ja wechselseitig bestimmte rote Linien markiert, und man sollte versuchen, die zu respektieren. Die SPD hat gesagt, dass wir keinen Sozialabbau zulassen werden.

Mir kommt es ein bisschen so vor, als würde die FDP viel mehr rote Linien ziehen als die anderen beiden Partner.
Kann ich verstehen, dass Sie diesen Eindruck haben.

Wie ist das mit den klimaschädlichen Subventionen – drei Milliarden sollen gestrichen werden – manche Recherchen sagen es könnten auch bis zu 65 Milliarden sein. Warum geht da nicht mehr?
Das mag grundsätzlich so sein, dass da noch Luft nach oben ist. Aber man muss im Einzelfall auch immer sehr genau hinsehen. Über den Agrar-Diesel haben wir ja eben gesprochen. Es ist sinnvoll, Übergangszeiträume zu schaffen. Es ist ein bewährter Weg, in mehreren Stufen vorzugehen. Wenn man einfach sagt, das war’s, wird das in vielen Fällen dazu führen, dass sich die Leute vor den Kopf gestoßen fühlen. Ich habe nichts gegen die Streichung klimaschädlicher Subventionen, aber man muss das einbetten in eine in sich schlüssige Konzeption. Und nach dem, was wir bisher so gehört haben, habe ich da meine Zweifel.

Was sagen Sie zum Dienstwagenprivileg?
Für die Autoindustrie wäre die Streichung sicher ein herber Einschlag. Aber man könnte ja mal darüber reden, welche Dienstwagen nicht mehr privilegiert werden sollten. Wenn wir die Umstellung voranbringen wollen, wäre es dann nicht ein Weg, dass man es bei der Förderung für E-Autos belässt und bei den Verbrennern schleichen wir uns langsam raus? Das scheint mir wesentlich schlauer, als an das Dienstwagenprivileg einfach einen Haken dranzumachen.

Machen wir mal einen Strich unter die Einigung. Zufrieden sind Sie nicht.
Ich bin mit Details nicht zufrieden. Vieles ist auch gut. Zum Beispiel, dass es beim Aufbau der Wasserstoffwirtschaft gerade im Nordwesten Niedersachsens keine Streichungen geben wird. Und auch die befürchteten Härten, die man beim Stichwort Sozialabbau haben musste, sind weitgehend ausgeblieben. Aber man muss trotzdem über die wunden Punkte reden.

So ein wunder Punkt ist die Schuldenbremse. Können Sie die in einem Satz erklären?
Der Staat soll in einem Jahr nicht mehr Schulden aufnehmen als er gleichzeitig tilgt. Und eine Ausnahme gibt es nur bei einer Notlage. Ganz kurz zusammengefasst. Der Abschnitt im Grundgesetz ist unendlich lang – was schon dagegenspricht, dass das eine besonders geglückte Regel ist.

Würden Sie die Schuldenbremse abschaffen?
Ich würde sie nicht abschaffen, aber verändern. Richtig ist, dass laufende Ausgaben durch laufende Einnahmen gedeckt sein sollten, sonst rutscht man in den Dispo und dann wird es teuer. Aber es ist umgekehrt häufig sehr sinnvoll, für Investitionen Kredite aufzunehmen, insbesondere wenn ich von diesen Investitionen länger profitiere. Ein Beispiel ist der Hauskauf. Beim Staat ist das nicht zulässig und das ist meines Erachtens ein Fehler. Außerdem hat Bundesverfassungsgericht auf die Jährlichkeit hingewiesen. Sprich: Eine Notlage für Ausnahmen von der Schuldenbremse muss jährlich neu erklärt werden, obwohl es vieles gibt, was wir über einen längeren Zeitraum angehen müssen. Ein Beispiel ist die Hilfe nach der Flutkatastrophe im Ahrtal. Dafür braucht es jetzt extra wieder ein neues Sondervermögen. Das zeigt, dass die aktuelle Regelung nicht praxisgerecht ist. Und da gibt es auch einen ganz grundsätzlichen Punkt. Wir werden auch in den kommenden Jahren immer wieder Notlagen haben, aber auch deswegen, weil wir jetzt die Weichen nicht richtig stellen. Es wäre viel klüger, diesen Notlagen vorzubeugen, also präventiv zu agieren. Also Deiche zu bauen, statt Flutschäden zu beheben. Dieser Gedanke passt bislang nicht zur Schuldenbremse.

Kann es sein, dass wir uns in Deutschland mit dieser Schuldenbremse gerade die eigene Wettbewerbsfähigkeit und Zukunft verbauen?
Es gibt weltweit zahlreiche Ökonomen, die genau das sagen. Und ich teile diese Befürchtung.

Blicken wir zum Schluss noch einmal kurz zurück auf 2023 – wie würden Sie das Jahr mit drei Adjektiven beschreiben?
Da brauche ich nur ein Adjektiv: Anstrengend.

Und blicken Sie zuversichtlich auf das nächste Jahr oder eher mit einem flauen Gefühl im Magen?
Zuversichtlich bin ich eigentlich immer, aber gleichzeitig weiß ich, dass die Phase vieler einschneidender Veränderungen weitergehen wird. Und trotzdem müssen wir uns auch klarmachen, dass Deutschland viel stärker ist, als das momentan oft den Anschein hat. Wir suchen gerade immer das Haar in der Suppe, anstatt uns die Frage zu stellen, wie eigentlich die Suppe schmeckt. Wie haben viele, auch hausgemachte Baustellen, aber wir können überall mit unserer nach wie vor starken Gesellschaft auch zu guten Lösungen kommen. Wir sollten wieder selbstbewusster werden, finde ich.

Interview: Lars Kompa

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Ein letztes Wort im Oktober

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Ein letztes Wort im Oktober


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil
Herr Weil, Deutschland ist zu kompliziert, zu langsam, zu teuer. Das wird momentan gerade wieder diskutiert. Die Erkenntnis ist aber nicht unbedingt neu, die Probleme sind seit Jahren bekannt. Durch die Krisen fällt uns das jetzt aber akut auf die Füße. Deutschland hat verschlafen, oder?

Sagen wir mal so, einige andere Länder sind momentan zumindest deutlich dynamischer unterwegs zu sein als wir. Und das hängt unter anderem damit zusammen, dass wir in der Tat leider viel Geld, Zeit, Kraft und Energie auf zu komplizierte Verfahren und Herangehensweisen verschwenden. Ein leider besonders bitteres Beispiel ist die Friesenbrücke in Weener bei Ostfriesland. Eines nebligen Novembermorgens im Jahre des Herrn 2015 näherte sich ein russischer Frachter der Friesenbrücke, das ist eine Eisenbahnbrücke, die dort seit 100 Jahren steht, und rammt einen Pfeiler. Glücklicherweise wird kein Mensch verletzt, der Frachter wird geborgen, aber die Brücke hat Totalschaden und muss ersetzt werden. Nach etwa sechs Wochen haben dann unsere niederländischen Nachbarn bei uns angerufen und gefragt, wann die Strecke denn wohl wieder offen sein werde. Und die zuständigen Stellen in Deutschland haben geantwortet: 2023, wenn es gut läuft. Die Niederländer dachten zuerst, das wäre ein Scherz. War aber keiner. Ich hoffe aber sehr, dass wir im nächsten Jahr nun die Wiedereröffnung feiern dürfen.

Fast zehn Jahre …
Die Konsequenz war aber tätige Reue. Wir haben ein paar Leute in die Niederlande geschickt, um denen dort mal über die Schulter zu gucken. Und das war wohl sehr spannend. Wie gehen die niederländischen Kolleginnen und Kollegen eine solche Aufgabe an? Als erstes plaudern sie miteinander mit unterschiedlichen Stakeholdern. Wir wollen diese Brücke neu machen, was fällt euch dazu ein, was müssen wir bedenken und so weiter. Das koste Zeit, die bekomme man aber hinterher, so sagen sie, drei- bis vierfach zurück. Dann gibt es auch in den Niederlanden vier Planungsabschnitte. Die Deutschen aber führen strikt und penibel einen Abschnitt nach dem anderen aus, jeweils mit einer eigenen Planung. Die Niederländer machen das parallel. Das spart natürlich viel Zeit. Und drittens sind die Niederlande zwar auch ein Rechtsstaat, aber wenn man dort in einem Gerichtsverfahren ein Argument gegen eine Maßnahme vorgetragen hat und damit nicht überzeugen konnte, dann war es das. Das ist die sogenannte Präklusion. Man kann in den Niederlanden nicht in mehreren Instanzen hintereinander dieselben Argumente vortragen wie in Deutschland. Darum hätte ein Ersatzbau wie die Friesenbrücke in den Niederlanden wahrscheinlich zwei oder drei Jahre gedauert, aber nicht neun, wie bei uns. Wir stehen uns also leider oft selbst im Weg.

Olaf Scholz möchte jetzt einen Deutschland-Pakt schmieden. Klingt erstmal gut. Aber bei der Bürokratie bin ich skeptisch. Sie zu entflechten, dazu bräuchte es ja Einigkeit in der Ampel und eine gemeinsame Richtung. Ich höre die Worte, aber ich glaube nicht dran.
Das ist auch eine Herkulesaufgabe, oder anders gesagt ein richtig hartes Stück Staatsreform. Wir haben aber punktuell auch schon gesehen, dass es klappen kann. Ein Beispiel ist der LNG-Terminal in Wilhelmshaven, der kurz vor Weihnachten eröffnet wurde. Ein echtes Leuchtturmprojekt. Wir können also auch in Deutschland ein Infrastrukturvorhaben in nur acht Monaten realisieren. Wenn wir es denn wollen. Damals war der Druck natürlich groß, die Energieversorgung musste sichergestellt werden, das musste funktionieren. Und es hat funktioniert. Robert Habeck hat im letzten Jahr auch im Bereich der erneuerbaren Energien viel Gutes auf den Weg gebracht. Da geht jetzt vieles schneller, Stichwort vorzeitiger Maßnahmenbeginn. Man wartet nicht bis zum letzten Gerichtsurteil, bis man zum ersten Mal eine Schaufel in die Hand nimmt. Das ist natürlich mit einem gewissen Risiko verbunden. Und jetzt besteht die Kunst darin, diese Erfahrungen zunächst im Bereich des Ausbaus unserer Infrastruktur zu verallgemeinern. Die Länder haben dem Bund bereits im letzten Jahr Vorschläge gemacht, der Bund hat geantwortet, jetzt haben die Länder die nächste Konkretisierungsstufe vorgenommen. Ich hoffe, dass wir namhafte Entbürokratisierungsschritte noch in diesem Jahr unter Dach und Fach kriegen.

Aber beschleunigen müssen wir nicht nur Infrastrukturprojekte …
Man muss das anschließend auf etliche andere Bereiche ausweiten. Wenn ich mir beispielsweise den Bereich Wohnungsbau ansehe, dann haben wir natürlich eine Vielzahl von unterschiedlichsten Auflagen und Verfahren, bis am Ende irgendwann einmal ein Haus errichtet ist. Sind alle diese Vorgaben und Standards wirklich notwendig? Wie machen es andere europäische Länder? Warum geht es da schneller? Unsere Prozesse zu verschlanken und zu beschleunigen, ist eine Herkulesaufgabe.

Als ein Heilmittel wird ja immer die Digitalisierung genannt. Aber dann sitzen die Leute in den Verwaltungen und drucken aus, was online eingepflegt wurde.
Ich denke schon, dass man mit der Digitalisierung schneller werden kann, aber eher nicht, wenn die Verfahren kompliziert bleiben. Wenn die Herangehensweise vereinfacht wird, dann kann man mit mehr Digitalisierung wirklich eine Menge rausholen. Ansonsten würde das viel weniger bringen.

Es gibt unfassbar viele Verordnungen, Gesetze, Gerichtsurteile, kaum jemand steigt noch durch. Wir ersticken in den Details. Wie legt man denn da die Axt an?
Man müsste mutig ein paar neue Maßgaben an den Anfang stellen. Wenn zum Beispiel nicht innerhalb einer bestimmten Frist entschieden wird, dann gilt ein Antrag als genehmigt. Das dürfte vieles schon wesentlich beschleunigen. Welche Erfahrungen macht man mit niedrigeren Standards im europäischen Ausland? Letztlich ist eine deutliche Vereinfachung unserer Regelwerke eine Aufgabe nicht nur für den Bundeskanzler und die 16 Ministerpräsidentinnen und -präsidenten. Da müssen am Ende ganz viele sich mitverantwortlich fühlen und mitmachen. Das wird ein anstrengender Prozess, dessen Komplexität man nicht unterschätzen darf, der aber trotzdem notwendig ist.

Verwaltungsbeamte werden bei uns vor allem juristisch geschult, wir haben eine legalistische Verwaltungskultur. Muss man bei der Ausbildung ansetzen? Weniger Jura, mehr Management?
Naja, wir haben eine an Recht und Gesetz gebundene Verwaltung und das ist ein großer zivilisatorischer Fortschritt.

Das stimmt einerseits. Andererseits haben wir so auch eine Kultur des sich Absicherns. Es geht oft um Selbstabsicherung, um nicht in die Haftung zu geraten. Und dann wird lieber ein Schritt zu wenig als einer zu viel gemacht.
Auch da ist sicher etwas dran. Leitungskräfte müssen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vermitteln: Ich stehe hinter Dir, wenn etwas schief geht, musst nicht du das Risiko tragen, ich trage das Risiko. Das erfordert Mut auf allen Ebenen.

Und dann wägt jemand ab, hat auf der einen Seite ein immenses Risiko und auf der anderen Seite persönlich vielleicht gar keinen großen Nutzen, sondern im Zweifel nur mehr Arbeit. Ist es nicht das, was sich in Deutschland ziemlich lähmend auswirkt?
Es ist immer leichter, politische Forderungen aufzustellen, als dann die Folgen praktisch durchzuhalten. Politik muss dann auch in der Umsetzung den Rücken breit machen. Nehmen Sie wieder das Beispiel des LNG-Terminals in Wilhelmshaven: Da hat sich Olaf Lies nicht nur massiv mit reingehängt, sondern auch die politische Verantwortung getragen.

Braucht es nicht insgesamt einen Wandel in den Köpfen, dass man wirklich auch von oben vermittelt: ihr könnt, ihr dürft, ihr sollt?
Genau darum geht es. Politik muss selbst mutig sein, neue Herangehensweisen vorleben und dafür werben. Wir sind bislang noch zu wenig ergebnisorientiert in Deutschland. Und das müssen wir jetzt zügig ändern.

Interview: Lars Kompa
(das Gespräch wurde Ende September geführt)

 

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Ein letztes Wort im September

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Ein letztes Wort im September


mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

Herr Weil, wie war der Urlaub? Batterien wieder voll?
Mein Urlaub war rundum schön. Ich teile meinen Sommerurlaub ja immer ein bisschen auf. Zuerst war ich wandern im Riesengebirge, das hatte ich bisher noch nicht so auf dem Zettel, ist aber ein wirklich wunderschönes Wanderrevier mit großartigen Wäldern und beeindruckenden Felslandschaften. Wirklich sehr zu empfehlen für alle Tippelbrüder und Tippelschwestern. Und dann war ich mit meiner Frau in den Alpen im nördlichsten Italien, kurz vor der Grenze zur Schweiz. Da hatten wir ebenfalls eine richtig gute Zeit und auch nicht so viele Wetterkapriolen. Ich bin also mit aufgeladenen Akkus zurück am Schreibtisch und voller Tatendrang.

Hatten Sie Zeit für das Nebelmeer. Mal ein bisschen in die Landschaft gucken und den Kopf freikriegen? Neue Horizonte entdecken?
(Lacht) Ich hatte Zeit, mal die verschiedenen Horizonte zu sortieren. Es ist ja im Moment vieles in Bewegung – von der Energiewende über die Wirtschaftstransformation bis zur Künstlichen Intelligenz. Aber ja, das geht mir beim Laufen so und das geht mir beim Wandern so, da bekomme ich die besten Gedanken und kann eine Menge sortieren. Und gleichzeitig ist das für mich auch eine Form von aktiver Erholung. Es gibt wirklich nichts, bei dem ich mich so gut erholen kann wie beim Wandern.

Dann kehren wir mal gut erholt zurück in die Niederungen des bundesdeutschen Alltags. Und da haben wir nach wie vor ein Thema, das gibt immer mehr Anlass zur Sorge. Die AfD hat in Umfragen inzwischen die SPD überflügelt. Das scheint nicht nur ein kurzes Zwischenhoch zu sein. Verfestigt sich da ein Trend?
Nicht zwangsläufig. Wir haben an dieser Stelle ja schon häufiger darüber gesprochen. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass ein großer Teil der momentanen Zustimmung für die AfD eine Reaktion darauf ist, dass auf die Menschen von allen Seiten massive Veränderungen einprasseln, und sie gleichzeitig den Eindruck haben, dass sie sich auf den Staat nicht verlassen können. Das heißt für mich ganz klar, wenn die AfD schwächer werden soll, dann müssen die anderen Parteien wieder besser werden. Diejenigen, die in der Regierung sind, müssen Verlässlichkeit und Orientierung vermitteln, Vertrauen schaffen, und diejenigen, die in der Opposition sind, müssen erfolgversprechende Gegenvorschläge zur Regierung bieten. Beides gelingt im Augenblick nicht ausreichend, das gilt für die Ampel und das gilt in Berlin auch für die CDU/CSU. Die Union müsste ja unter normalen Bedingungen eigentlich in den Umfragen von der Schwäche der Regierungsparteien profitieren, tut sie aber nicht.
Auch in Niedersachsen sind die AfD-Werte zwar deutlich zu hoch, aber auch noch deutlich unter den Bundeswerten. Das mag daran liegen, dass wir es in Niedersachsen einigermaßen hinbekommen, mit unserer Landespolitik Vertrauen zu schaffen.

Was ich für absolut elementar halte in diesen Zeiten, das ist, dass die Mitte sich mehr zu Wort meldet. Seit Harald Welzer mit Richard David Precht die Köpfe zusammensteckt, bin ich ja öfter eher skeptisch, aber die These Welzers, dass Demokratien nicht wegen zu starker Ränder kippen, sondern wegen einer zu trägen Mitte, die zu spät reagiert, das halte ich für sehr stichhaltig und einleuchtend. Die Mitte in Deutschland scheint mir aber momentan im Dornröschenschlaf. Und noch schlimmer, ich erlebe bei bestimmten Themen auch zunehmend ein eher gleichgültiges, müdes Schulterzucken. Da läuft schon eine Weile so eine schleichende Verschiebung des Diskurses nach rechts. Sehen Sie das ähnlich?
Ich sehe diese Tendenzen mit großer Sorge. Ich habe Verständnis für Menschen, die momentan an vielen Stellen ratlos oder verunsichert sind und teilweise auch sauer auf die Politik. Mal ein kleiner Einschub: Um als Ministerpräsident nicht Ärger wegen mangelnder Neutralität zu bekommen, äußere ich mich mal kurz als SPD-Landesvorsitzender und sage klipp und klar: Die AfD löst keine Probleme, sie ist ein Problem. Es handelt sich um eine Partei, die in hohem Maße rechtsextrem beeinflusst ist. Der Verfassungsschutz hat genug Gründe, um die AfD zu beobachten. Wir müssen unsere Demokratie schützen vor diesen Leuten. Am Ende gilt immer noch das alte Wort von Winston Churchill: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“ Und gerade in Deutschland müssten alle wissen, dass unsere Demokratie uns über Jahrzehnte Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat. Das gilt insbesondere für die von Ihnen eben genannte Mitte. Das ist etwas völlig anderes als das nationalistisch- autoritäre Denken, das die AfD kennzeichnet. Nicht alle Wählerinnen und Wähler der AfD sind rechtsradikal oder rechtsextrem, aber sie wählen rechtsextrem – das muss jeder und jedem bewusst sein.

Die AfD ist ja sehr strategisch unterwegs, vor allem im Osten Deutschlands trifft man sie in Vereinen, in der Feuerwehr, sie sind nah dran und engagiert. Während beispielsweise SPD oder CDU vor Ort eher nicht so aktiv und sichtbar sind.
Mit solchen Aussagen wäre ich sehr vorsichtig. Die AfD versucht dieses Bild zu vermitteln, ob dieses den Tatsachen entspricht, würde ich doch sehr bezweifeln. Jedenfalls im Westen stimmt es definitiv nicht. Die anderen Parteien haben deutlich mehr Mitglieder und viele sehr engagierte Menschen in ihren Reihen. Man muss aufpassen, dass man den Erzählungen der AfD als „Partei des kleinen Mannes“ nicht auf dem Leim geht – zahlreiche Führungsköpfe der AfD gehören der vermeintlichen Elite an, die die Partei so gerne kritisiert.

Muss man es nicht trotzdem versuchen, die Basisarbeit wieder zu verstärken?
Natürlich! Ich kann nur alle aufrufen, sich vor Ort zu engagieren – davon lebt die Demokratie. Und man muss eben gleichzeitig auch von Seiten der Regierungen für Vertrauen sorgen. Und da ist leider manches in letzter Zeit schiefgelaufen, Stichwort Heizungsgesetz. Es gab sehr viel Konfusion und öffentlichen Streit und darüber ist dann letztlich auch der richtige und wichtige eigentliche Ansatz des Gesetzes völlig in den Hintergrund getreten. Also, die Regierungen müssen gut sein, die Opposition muss gut sein. Und gleichzeitig müssen wir tatsächlich auch versuchen, überall als Demokratinnen und Demokraten präsent zu sein, aktiv zu sein und nicht passiv. Und das ist nicht nur eine Sache der Parteien. Die Demokratie geht uns alle an. Es ist eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, unsere Demokratie so zu festigen, dass sie eben auch in unruhigen Zeiten stabil bleibt. Demokratien scheitern meistens nicht daran, dass sie zu viele Feinde haben, sondern dass sie zu wenig Freunde haben. Wir sind in Deutschland zum Glück nicht so weit, dass unsere Demokratie akut in Gefahr ist, aber wir erleben Verschiebungen und Tabubrüche.

Was halten Sie denn von den sogenannten Bürgerräten zur Stärkung der Demokratie? Der erste zum Thema „Ernährung im Wandel“ ist ja jetzt gerade an den Start gegangen.
Alles in allem können Bürgerräte durchaus eine sinnvolle Ergänzung sein. Im Prinzip aber sind wir mit unserer starken parlamentarischen Demokratie und einer starken Zivilgesellschaft bisher in Deutschland ganz gut gefahren. Ich finde es dennoch absolut in Ordnung, dass man das jetzt ausprobiert, erwarte allerdings auch keine bahnbrechenden Ergebnisse. Es gab ja auch bei den Grünen mal den Gedanken, je mehr Partizipation stattfindet, desto schneller kommen wir voran – das kann sein, muss aber nicht sein.

Ich sehe gar nicht so sehr die Gefahr, dass die Vorschläge nicht fortschrittlich genug sind, ich sehe eher die Gefahr, dass so ein Bürgerrat beispielsweise zur Verkehrswende ganz klar feststellt, dass wir sofort ein Tempolimit brauchen, die FDP dann aber trotzdem ablehnt, weil sie ihrer Klientel das nicht zumuten möchte. Da ist also ein Bürgerrat mit nachvollziehbaren und klugen Vorschlägen und die Ergebnisse werden nicht gehört …
Das ist auch ein wichtiger Punkt. Wenn ich diese Form der Partizipation zulasse, dann darf ich die Ergebnisse im Nachgang natürlich nicht einfach wegwischen, aber auch die Entscheidungen gewählter Repräsentanten nicht einfach übergehen. Gleichzeitig finde ich es aber auch wichtig, dass Bürgerräte die Machbarkeit ihrer Vorschläge mitbedenken. Sie müssen sich fragen, wie die Vorschläge umgesetzt und finanziert werden könnten. Nehmen wir das Thema Ernährung: bei Umfragen gibt es sehr hohe Zustimmungswerte für mehr Tierwohl, aber an der Supermarkttheke wird dann doch eher zum billigsten Angebot gegriffen.

Interview: Lars Kompa
(das Gespräch wurde Ende August geführt)

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Ein letztes Wort im Juni

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Ein letztes Wort im Juni


Ein letztes Wort

mit dem Ministerpräsidenten Stephan Weil

 

Herr Weil, Sie sind gerade zurück vom Flüchtlingsgipfel. Was hat’s denn gebracht?

Einiges, aber nicht genug, deshalb müssen wir unbedingt weitermachen. Die Bundesregierung hat zugesagt, die Kommunen mit zusätzliche einer Milliarde Euro bei der Unterbringung von Geflüchteten zu unterstützen. Das war ein Zwischenerfolg, aber schon der war hart errungen. Ich bin trotzdem nicht unzufrieden, denn die Alternative wäre ein großer Eklat zwischen Bund und Ländern gewesen. Einen solchen Eklat aber sollten wir uns gerade bei dem Thema Zuwanderung wirklich ersparen. Im Kern gibt es dennoch nach wie vor einen deutlichen Dissens. Die Kommunen und wir Länder plädieren für ein atmendes System. Die Kommunen dürfen nicht davon abhängig sein, dass der Bund in jedem Jahr neu entscheidet, in welchem Umfang er bei der Unterbringung und Versorgung von Geflüchteten hilft. Wir brauchen ein System, das sich an der Zahl der Menschen orientiert, die zu uns kommen. Wenn wenige kommen, muss der Bund entsprechend wenig zahlen, kommen viele, muss die Hilfe angepasst werden.

Was hat der Bund dagegen?

Erstens wird signalisiert, dass kein Geld da sei, und zweitens wird ins Feld geführt, dass der Bund schon viel Geld bezahle. Letzteres stimmt ausdrücklich, das gilt aber gleichermaßen für die Länder und die Kommunen selbst. Und zum ersten Punkt stellt immer die Frage, welche politischen Prioritäten gesetzt werden. Aus meiner Sicht sollte das Thema Geflüchtete sehr weit oben stehen, denn wir wissen alle, dass es dabei implizit auch um andere Fragen geht: um die Stabilität der Gesellschaft und am Ende um das Vertrauen in die Demokratie. Darum überzeugen mich die Argumente der Bundesregierung nicht und ich kann die Kritik aus den Kommunen inhaltlich gut verstehen.

Die Not scheint groß. Welche Probleme sind akut?

In Niedersachsen haben wir derzeit noch eine besondere Situation: wir haben im letzten Jahr mehr Geflüchtete aufgenommen als wir nach dem bundesweiten Verteilungsschlüssel hätten aufnehmen müssen. Das führt dazu, dass wir momentan bei uns eine kleine Verschnaufpause haben. Aber auch in Niedersachsen ist der Wohnungsmarkt in vielen Teilen des Landes angespannt. Dies ist übrigens ein erster deutlicher Unterschied zu 2015/2016: damals war der Wohnungsmarkt entspannt. Die Kommunen haben es also momentan sehr schwer, Unterkunftsmöglichkeiten zu finden. Punktuell sind Turnhallen belegt, das ist immer ein Gradmesser. Die Anmietung von Hotels ist derzeit noch selten notwendig, aber das hat auch mit der besagten Verschnaufpause zu tun. Im vergangenen Jahr war dies vielerorts notwendig. Unterm Strich sind bundesweit zahlreiche Kommunen überfordert. Die Berichte aus den anderen Länden sind teilweise noch besorgniserregender als die aus Niedersachsen.

Hätte man sich nicht schon vor Monaten ganz anders darauf einstellen müssen, dass viele Flüchtlinge aus der Ukraine kommen?

Aktuell (im Mai 2023) sind es nicht so sehr die Menschen aus der Ukraine, die uns Sorgen machen. Diese Zahl ist derzeit weitgehend stabil. Diese Geflüchteten haben bei uns einen gesicherten Rechtsstatus und es sind weniger gekommen, als man hätte annehmen können. Das ist ein Hinweis auf dem Mut und die bewundernswerte Entschlossenheit der Ukrainer, ihr Land zu verteidigen. Was gestiegen ist und weiter steigt, ist die Zahl der sonstigen Asylbewerberinnen und Asylbewerber aus allen möglichen Ländern. Wir verzeichnen bei den Anträgen momentan eine Steigerung von 80 bis 100 Prozent. Und die warmen Sommermonate mit potentiell hohen Zahlen kommen ja erst noch. Da kommt ein Problem auf uns zu, vor dem wir alle großen Respekt haben sollten. Und wir dürfen dieses Thema auch nicht kleinreden. Es ist eine große Herausforderung, unserem humanitären Anspruch gerecht zu werden, die Situation in den Kommunen und das gesellschaftliche und politische Klima im Land aber nicht zu überfordern.

Vielleicht können wir das mal insgesamt so ein bisschen aufdröseln. Wir brauchen einerseits eine gesteuerte und geordnete Zuwanderung, uns fehlen die Arbeitskräfte. Wir haben dazu die Flüchtlinge und die humanitäre Pflicht, Asyl zu gewähren. Und wir haben die illegale Zuwanderung. Wobei da größtenteils nicht Menschen kommen, die Böses im Schilde führen, sondern Menschen, die arbeiten wollen, die sich ein besseres Leben aufbauen wollen.

Ganz genau, es geht um drei Herausforderungen gleichzeitig, die in einem direkten Zusammenhang stehen. Das macht die Lage und die Diskussionen darüber unübersichtlich. Wir haben erstens eine humanitäre Verpflichtung gegenüber den Menschen, die dringend unseren Beistand und Schutz benötigen. Das sind zahlenmäßig neben den Ukrainerinnen und Ukrainern deutlich mehr als die Hälfte derjenigen, die bei uns Asyl beantragen. Insbesondere sind es Menschen aus Syrien, aus dem Iran und aus Afghanistan. Wir sollten uns alle gemeinsam anstrengen, dass die Aufnahmebereitschaft in Deutschland für politisch Verfolgte so zugewandt bleibt, wie sie in den letzten Jahren war und derzeit noch ist. Dies erfordert aber auch, dass wir illegale Zuwanderung möglichst unterbinden. Auch da aber kommen nicht Menschen, die Böses im Sinn haben, sondern Menschen, die sich eine Perspektive für sich und ihre Familien suchen. Aber wir haben bereits 2015/2016 die Erfahrung gemacht, dass Deutschland nicht stellvertretend ein europäisches Problem lösen kann. Wir können nicht allen Menschen eine Perspektive bieten, die sich das wünschen, und müssen die Aufnahmefähigkeit unserer Kommunen und die Stabilität unserer Gesellschaft im Auge behalten. Und darum ist es unerlässlich, dass wir so gut wie möglich die illegale Zuwanderung unterbinden. Und schließlich brauchen wir umgekehrt im Unterschied zu 2015/2016 zugleich mehr legale Zuwanderung. Bei uns fehlen Arbeitskräfte an allen Ecken und Kanten. Von der Bundesregierung haben wir einige wirklich gute Vorschläge gehört, um die Möglichkeiten legaler Zuwanderung auszuweiten. Das geht für mich in die richtige Richtung. Wenn wir keine legalen Alternativen bieten, dann werden sich viele Menschen in die Illegalität flüchten. Mit all den bekannten Problemen.

Das dauert nur und wird uns im Sommer jetzt nicht helfen …

Ja, das dauert. Und es wird nicht allein in Deutschland entschieden. Beim Grenzschutz etwa oder beim Thema Verteilung ist es eine  europäische Entscheidung. Leider sind sieben Jahre verstrichen, ohne dass sich in Europa in Sachen Flüchtlingspolitik Nennenswertes getan hätte. Aber vielleicht haben wir jetzt eine Chance, weil zum ersten Mal alle Beteiligten unter Druck stehen, auch die osteuropäischen Länder. Sie hatten sich vor sieben Jahren der Aufnahme von Flüchtlingen weitgehend verweigert. Wenn wir jetzt keine europäische Lösung hinbekommen, werden wir auch weiterhin nur an den Symptomen herumdoktern.

Ich habe im Moment eher die Wahrnehmung, die europäischen Länder überbieten sich darin, sich möglichst unattraktiv für Flüchtlinge zu machen, Stichwort „Schmuckgesetz“ in Dänemark. Möglichst viel Schikane und möglichst laut drüber reden, damit sich möglichst wenig Menschen auf den Weg machen … Angesichts dieses Tendenzen halte ich eine europäische Einigung für reichlich utopisch, ehrlich gesagt.

Ich habe trotzdem die Hoffnung, dass ganz am Ende die Notwendigkeit gesehen wird, nicht allein auf die nationalen Interessen zu blicken. Wir bekommen ja im Augenblick sehr klar vor Augen geführt, dass es Zeiten geben kann, in denen man auf die Hilfe anderer angewiesen ist.

Migrationspartnerschaften sollen jetzt dafür sorgen, dass Ausreisepflichtige in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können. Das ist mit vielen Ländern, und gerade mit jenen, aus denen die meisten Ausreisepflichtigen kommen, aber völlig utopisch.

Das stimmt für Afghanistan und Syrien oder für den Iran, aber mit einigen afrikanischen Staaten kann das durchaus funktionieren. Und ich halte das durchaus für einen klugen Ansatz: Diese Länder sollen helfen, die illegale Zuwanderung zu unterbinden, und wir öffnen uns im Gegenzug gleichzeitig für die Möglichkeit, dass Menschen von dort legal zu uns kommen. Diese Männer und Frauen können dann wiederum ihre Familien im Herkunftsland unterstützen. Es wäre gut, wenn wir versuchten, die unterschiedlichen Interessen zu berücksichtigen. Das fehlt bislang.

Rechtsstaatliche Asylverfahren an der Außengrenze der EU, was sagen Sie dazu …

Ich finde den Ansatz richtig, die Umsetzung ist gleichwohl schwierig.

Wenn ich mir ansehe, was an den Grenzen vor Ort geschieht, wie überfordert man dort teilweise schon jetzt ist, kann ich mir rechtsstaatliche Asylverfahren nur mit sehr viel Fantasie vorstellen.

Letztlich geht es darum, dafür zu sorgen, dass Menschen sich eben nicht mehr in die Schlauchboote setzen müssen. Sie haben ja recht, es gibt viele praktische Fragezeichen. Aber mir ist es wichtig, dass wir jetzt zunächst einmal eine gemeinsame Zielvorstellung entwickeln. Klar ist, dass sich Zustände wie beispielsweise im Flüchtlingslager Moria nicht wiederholen dürfen. Aber so wie es jetzt ist, kann es auch nicht bleiben. Das Sterben auf dem Mittelmeer ist doch unerträglich – wir müssen handeln.

Handeln wäre mal gut. Zumal wir schon wieder einen Wettbewerb der Populisten erleben. Und da meine ich nicht nur die AfD. Ich höre auch Fragwürdiges von ganz links. Und ich erlebe dazu eine CDU/CSU, die bewusst verkürzt, vermischt und polemisiert.

Und das war – um auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen – der Grund, warum ich beim Flüchtlingsgipfel mit aller Kraft versucht habe, einen Eklat zu vermeiden. Denn wer hätte sich am Ende darüber gefreut? Doch nur jene, die nicht wollen, dass Deutschland weiter offen bleibt für humanitäre Aufnahme. Und darum sollten alle, die Verantwortungsbewusstsein haben, jetzt mal verbal einen Gang runterschalten und sich besinnen. Leider erleben wir in Teilen der CDU/CSU momentan das Gegenteil. Da werde in unverantwortlicher Weise Ängste geschürt und das halte ich für einen Riesenfehler.
Interview: Lars Kompa

 

 

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Ein letztes Wort im Juli

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Ein letztes Wort im Juli


Ein letztes Wort

mit dem Ministerpräsidenten

Stephan Weil

Herr Weil, jetzt wird es allmählich richtig teuer und ein Ende der Inflation ist noch längst nicht in Sicht. Für mich wird momentan sehr deutlich, wie groß die Unterschiede zwischen Arm und Reich wirklich sind, auch in Deutschland. Während die einen sich auf den Sommerurlaub freuen, können sich viele andere die Grundversorgung kaum noch leisten. Welchen Blick haben Sie auf die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland?

Die Preisentwicklung ist momentan tatsächlich besorgniserregend. Es gibt zwar inzwischen Unterstützungsleistungen für viele Menschen in Deutschland, aber es gibt nach wie vor Gruppen, die bei den aktuellen Hilfen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Zum Beispiel Menschen mit Einkommen, die kaum über den Schwellenwerten für Sozialleistungen liegen, die aber kaum etwas von den Entlastungen sehen. Oder nehmen wir die Rentnerinnen und Rentner, die ihr Leben lang in schlecht bezahlten Jobs gearbeitet haben. Bei denen geht es jetzt bei einer solchen Inflation hart ans Eingemachte. Darum bin ich angesichts der momentanen Situation schon besorgt, insbesondere auch, weil wir den Höhepunkt der Entwicklung noch gar nicht erreicht haben.

Das wird noch weitergehen und absehbar auch noch heftigere Ausmaße annehmen, oder?

Ja, insbesondere die Energiepreise werden weiter steigen. Viele Bürgerinnen und Bürger werden das leider bei der nächsten Abrechnung ihrer Stadtwerke sehen. Einige Stadtwerke haben in den letzten Jahren ihre Energie sehr kurzfristig eingekauft, sozusagen auf Schnäppchen hoffend. Gerade diese Anbieter haben ihre Gaspreise schon jetzt teilweise happig erhöhen müssen, bis zu 50 Prozent. Manche Anbieter haben vorsichtiger agiert, die Stadtwerke in Hannover gehören dazu. Sie decken sich für ihren Bedarf langfristiger ein, aber auch diese Verträge zu niedrigeren Preisen werden jetzt irgendwann auslaufen. Und dann wird es teuer. Es wird saftige Nachforderungen geben und ebenso saftige Erhöhungen der Vorauszahlungen. Und das bei Leuten, die kaum oder keine Reserven haben. Das macht mir Sorge.


Was kann man tun?

Niemand kann ernsthaft behaupten, dass man alle Preissteigerungen ganz abfedern oder gar auffangen kann: Dies geht nicht bei einer so großen auch international zu beobachtenden Teuerungswelle. Aber es darf schon die Erwartung an den Staat sein, dass vor allem jene besonders gut geschützt werden, die sehr wenig Geld haben. Für Menschen, die gut oder gar sehr gut verdienen, ist die Teuerungswelle momentan ein Ärgernis, aber nicht mehr. Aber Menschen, die von rund 1000 Euro im Monat leben müssen, können Preissteigerungen von 40 oder 50 Prozent nicht einfach wegstecken. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, dass beispielsweise Bezieherinnen und Bezieher von geringen Renten nicht mit berücksichtigt worden sind beim Energiegeld. Viele andere bekommen dieses Energiegeld, auch ich. Das kann nicht richtig sein. Menschen mit geringen Renten bräuchten diese 300 Euro, nicht aber die Spitzenverdiener. Ein weiteres Beispiel sind Studierende, die keine Jobs haben. Oder nehmen Sie die Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung. Ich habe gelernt, dass in den aktuellen Regelsätzen noch Energiepreise aus der Niedrigpreisphase einkalkuliert sind. Diese Phase liegt jetzt aber schon eine ganze Weile zurück. Wir werden uns noch weitere Unterstützungsleistungen überlegen müssen, um die Probleme dieser Menschen zu lindern.

Diese Probleme sind ja sehr akut, aber darüber hinaus werden nun ganz grundsätzliche Schieflagen in unserer Gesellschaft noch sichtbarer. Wie steht es eigentlich um die Gerechtigkeit? Was ist mit der Schere zwischen Arm und Reich? Brauchen wir nicht dringend ganz neue und grundsätzliche Antworten? Kann das alles wirklich so weitergehen? Wie hegen wir den Kapitalismus ein? Braucht es nicht ganz andere Schranken, viel umfangreichere Leitplanken?

Das sind wichtige Fragen. Das Problem mit der wachsenden Ungleichheit hatten wir schon lange vor Corona, aber jetzt womöglich noch einmal verschärft. Wir haben in der Corona-Krise weit über hundert Milliarden Euro für die Unterstützung der Wirtschaft mobilisiert. Das war auch ausdrücklich richtig, denn Staat und Gesellschaft können kein Interesse daran haben, dass Unternehmen unverschuldet in die Insolvenz getrieben werden. Aber wenn wir jetzt erleben, dass viele Menschen unter Umständen in eine Privatinsolvenz hineinschlittern, weil sie die Preise nicht mehr stemmen können, dann muss der Staat sich für diese Leute genauso engagieren, wie zuvor für die Unternehmen. Das ist in der Tat eine Gerechtigkeitsfrage. Außerdem müssen wir genau hinschauen ob und wie manche Maßnahmen wirken: Nehmen Sie das Beispiel Tankrabatt. Es ist ganz offensichtlich, dass die Energiekonzerne ihn nicht weitergeben. Im Gegenteil, die Preise werden fast stündlich angepasst und sind sogar zu manchen Tageszeiten besonders hoch, insbesondere dann, wenn viele Leute tanken. Das geht so nicht – wozu haben wir Kartellbehörden, wenn nicht für solche Fälle?


Wir haben ja mal darüber gesprochen, was in Amerika geschehen ist mit dem Mittelstand, der förmlich geschreddert wurde. Ich höre momentan immer mehr von Leuten, die ich dem Mittelstand zurechne, dass sie sich ebenfalls schon geschreddert fühlen oder zumindest mehr und mehr Angst davor haben. Passiert jetzt auch bei uns, was in Amerika passiert ist?

Der Vergleich mit Amerika wäre mir im Moment noch zu weitgehend. Aber in der Tat: wehret den Anfängen, man muss solchen Entwicklungen vorbeugen. In Not geraten jetzt auch Bürgerinnen und Bürger, die ihr Leben lang gearbeitet haben, die immer ihre Steuern und Sozialversicherungsbeiträge bezahlt haben, die nie einen Cent öffentliche Unterstützung benötigt haben. Sie sind bislang im Leben ganz gut klargekommen. Aber sie haben eben keine Reserven. Ihnen zu helfen ist nicht nur eine moralische Pflicht. Würde der Staat den unverschuldet in Bedrängnis geratenden Menschen nicht helfen, dann würden zudem die Verhältnisse in unserer Gesellschaft ganz grundlegend ins Rutschen geraten. Das wäre eine Gefahr für den sozialen Frieden und am Ende des Tages auch für die Demokratie. Darum plädiere ich dafür, dass Politik jetzt möglichst zielgerichtet und gerecht Unterstützung leisten muss. Das ist das Versprechen des Sozialstaats und das gilt hier und jetzt.


Auf der andere Seite sehen wir, dass die Vermögen der sehr reichen Menschen während der letzten Jahre, auch während der Pandemie, noch einmal massiv gewachsen sind. Ist der Webfehler nicht der Kapitalismus? Die eigentliche Krux ist doch, dass der Kapitalismus nie dazu gedacht war, für die Grundbedürfnisse der Menschen zu sorgen. Es geht nur um Gewinnmaximierung. Und so eine Demokratie wie die unsere versucht dann mit arg begrenzten Mitteln die gröbsten Schäden auszugleichen …

Der Kapitalismus ist für sich allein genommen keineswegs sozial, man muss ihm ein soziales Korsett einziehen. Die Soziale Marktwirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten durchaus breiten Bevölkerungsschichten Wohlstand gebracht. Sie war lange eine gute Medizin gegen Ungleichheit und Verwerfungen. Jetzt müssen wir das System weiterentwickeln, Einkommens- und Vermögensunterschiede müssen verringert werden, durch mehr Bildungschancen, auch durch Weiterbildungsangebote, durch eine gerechtere Lohnentwicklung und durch ein faireres Steuer- und Transfersystem.


Gleichzeitig wird noch immer gerne das Allheilmittel Wachstum gepriesen. Ist das noch zeitgemäß in Zeiten größter Naturzerstörung?

Das rein quantitative Wachstum müssen wir überwinden und hinter uns lassen und die ganz grundsätzliche Frage lösen, über die schon so lange diskutiert wird: Wie können wir gerecht, gesund und nachhaltig wachsen? Erste Ansätze gibt es: Wenn wir uns jetzt daran machen, aus Gründen des Klimaschutzes die Industrie grundlegend umzubauen, dann sind damit riesige Investitionen verbunden. Diese Investitionen lösen wegen der damit einhergehenden Verringerung des CO2-Ausstoßes ein qualitatives, ein nachhaltiges Wachstum aus. Außerdem erleben wir Wachstum infolge von Digitalisierung. Wenn dabei die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – etwa durch gute Qualifizierungsangebote – mitgenommen werden, handelt es sich um ein soziales, ein inklusives Wachstum. Wir müssen die Weichen so stellen, dass Wachstum stets mit Umwelt- und Klimaschutz und mit Teilhabechancen verbunden wird, dass also möglichst viele Menschen, unser Planet und das Klima in Zukunft vom Wachstum profitieren.


Wie erklärt man das der FDP?

Ja, da gibt’s ganz sicher Diskussionsbedarf. Die Mehrheitsverhältnisse sind so, wie sie derzeit nun einmal sind. Ich glaube allerdings, wer es mit der sozialen Marktwirtschaft gut meint, der muss gerade jetzt die soziale Dimension ernst nehmen.

Interview: Lars Kompa

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