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Editorial 2024-01

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Editorial 2024-01


Liebe Leser*innen,

bekommt man das noch hin in dieser immer unübersichtlicheren Welt, die Unterscheidung zwischen Gut und Böse? Was ist richtig und was ist grundfalsch? Wie schärft man zwischendurch den eigenen Kompass? Wir haben uns dazu in dieser ersten Ausgabe des Jahres 2024 ab Seite 54 ein paar Gedanken gemacht. Für mich ist dieses Thema vielleicht eines der wichtigsten Themen der Zukunft. Denn die Frage nach Gut und Böse mündet aus meiner Sicht ganz automatisch in der Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen?

In Deutschland, so zeigen momentan immer neue Umfragen, wünschen sich leider zunehmend mehr Menschen, dass es jedenfalls keine Demokratie mehr sein sollte. Man wünscht sich einen starken Führer. Eine Autokratie. Mindestens. Und ich lasse hier mal die weibliche Form für den Führer weg, denn ich glaube nicht, dass diese Leute sich eine Frau an der Spitze wünschen. Wenn ich mir ansehe, was bei den anstehenden Landtagswahlen in ein paar Monaten droht, bekomme ich tatsächlich Beklemmungen. Können Menschen denn wirklich so irre sein? Es scheint so? Was ist denn da falsch gelaufen?

Ich rätsele genauso wie viele andere. Klar, man kann vielleicht ein paar Gründe finden, die Überforderung durch all die Krisen und Konflikte, diese diffuse Bedrohung, auch durch den Klimawandel, die Angst macht, die Ebbe im Portemonnaie, dieses Gefühl, abgehängt zu sein und nicht das zu bekommen, was einem zusteht („während die Flüchtlinge alles hinterhergeschmissen bekommen“). Aber wählt man deswegen eine Partei, die für noch viel mehr Abgehängte sorgen würde? Man kann im Parteiprogramm der AfD nachlesen, was sie für die weniger gut ausgestatteten Menschen in Deutschland im Köcher hat: Gar nichts. Eher im Gegenteil.

Ich verstehe nicht, warum es den anderen Parteien nicht gelingt, die AfD zu stellen und zu entzaubern. Beziehungsweise verstehe ich schon, warum das nicht gelingt. Weil man sich fleißig vor den Karren der AfD spannen lässt. Aber warum? Warum kommt die CDU jetzt sogar noch mit der guten alten Leitkultur um die Ecke? Stacheldraht ums Hirn? Brauchen wir das? Ernsthaft, CDU? Nichts gelernt? Ich verzweifle allmählich an unseren Parteien in Deutschland.

Ich bin sehr gespannt auf dieses Jahr. Wird es noch schlimmer? Oder schaffen wir es, zumindest hier in Deutschland, das Rad wieder ein bisschen mehr in die andere Richtung zu drehen. Ich würde es mir für uns alle sehr wünschen.
In diesem Sinne ein „gutes“ neues Jahr!

Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind

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Editorial 2023-10

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Editorial 2023-10


Liebe Leserinnen und Leser,

um Freiheit geht es in dieser Ausgabe in unserem Titelthema. Ein großes Wort. Und auch eine Verabredung, im Idealfall mit klaren Grenzen. „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“, hat Immanuel Kant gesagt.
Das ist schon beinahe so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag.

Freiheit ist ein Begriff, der in unserer Gesellschaft fast inflationär verwendet wird, aber nur selten thematisieren wir die Bedeutung von Freiheit für unser tägliches Leben. Wir sind sie gewohnt, während sie in anderen Ländern längst gestorben ist. Freiheit ist kein abstraktes Konzept; sie ist im Grunde die Luft, die wir atmen, die Grundlage unserer Demokratie und die Triebkraft für Fortschritt und Wachstum. Sie bietet die Möglichkeit, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, unsere Überzeugungen zu vertreten und uns in einer Welt der Vielfalt und Differenzierung zu entfalten.
Die Geschichte hat gezeigt, dass Gesellschaften, in denen Freiheit gefördert wird, florieren und blühen. Freiheit inspiriert Kreativität, Unternehmertum und den Wunsch nach ständiger Verbesserung.
Wenn wir die Freiheit einschränken, ersticken wir nicht nur individuelle Ambitionen, sondern behindern auch den gesellschaftlichen Fortschritt. Freiheit ist kein Privileg, sondern ein grundlegendes Menschenrecht. Sie ist das Fundament unserer Gesellschaften und unserer individuellen Würde.

Und ich möchte das alles nicht missen. Ich fühle mich in Deutschland frei, nicht eingeschränkt, nicht zensiert, nicht beobachtet. Ich kann hier an dieser Stelle schreiben, was immer ich will. Ich kann Olaf Scholz für einen schlechten Kanzler halten und Christian Lindner für einen noch schlechteren Finanzminister, sie werden mich nicht morgen mit einer schwarzen Limousine abholen und ich werde auch nicht aus irgendeinem Fenster fallen.
Das droht nur, wenn ich den Antidemokraten meine Meinung sage, was ich an dieser Stelle hin und wieder tue. Dann bekomme ich unschöne Anrufe, manchmal auch handfeste Drohungen.

Ich habe mich entschieden, das nicht weiter zu beachten. Da rufen Idioten an – warum sollte ich mich auch nur eine Sekunde mehr mit diesen Leuten beschäftigen als ich muss. Diese Menschen sind mir ein Rätsel, und ich weiß, dass mit ihnen zu diskutieren mir nicht helfen wird, sie zu verstehen.
Gerade erst gab es wieder eine Rechtsextremismus-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit einer klaren Tendenz. Die Zahl der Idioten wächst. Es gibt tatsächlich Leute in Deutschland, die wünschen sich eine Diktatur und einen Führer.
Warum?
Das will irgendwie nicht in meinen Kopf. Wie erbärmlich und lebensunfähig muss jemand sein, um sich Unfreiheit zu wünschen?

Da ist echt drüber. Ich habe schon vor dieser Studie des Öfteren überlegt, wie hirnverbrannt man sein muss, um die AfD zu wählen. Wie schafft man es, Alice Weidel gut zu finden? Oder Bernd Höcke? Verstehe ich nicht. Aber sich eine Diktatur zu wünschen ist noch einmal ein Schritt mehr. Womöglich noch mit der Diktator-Doppelspitze Weidel/Höcke. Hoffentlich bekommt jetzt niemand Albträume. Was braut sich da bloß zusammen in Deutschland? Ist das wieder die alte braune Suppe?

Wenn ich solche Studien lese oder mir die aktuellen Umfragen ansehe, dann wird mir inzwischen wirklich übel. Ich weiß, viele winken ab. Die Zustimmungswerte für die AfD werden demnächst wieder sinken, alles nur ein Zwischenspiel, das höre ich ständig. Und Olaf Scholz spricht von einer Schlechte-Laune-Partei. Ich finde das grundfalsch. Und ich finde es genauso grundfalsch als Reaktion auf die guten Zahlen der AfD nun ebenfalls rechts zu blinken. Ich wünsche mehr Rückgrat in Deutschland. Es geht jetzt nicht darum, den Rechten alles nachzuplappern und rechte Light-Versionen anzubieten, es geht darum, den Rechten laut und deutlich zu widersprechen!

Viel Spaß mit dieser Ausgabe!

Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind 

 

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Editorial 2023-09

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Editorial 2023-09


Liebe Leserinnen und Leser,

in den kommenden Stadtkind-Ausgaben werden wir uns ein paar Gedanken machen zu verschiedenen, ganz zentralen Begriffen wie Freiheit, Erkenntnis, Moral, Ideologie, Macht und Glück. In dieser Ausgabe interessiert uns die Würde. „Wie haben viel zu verlieren und noch mehr zu gewinnen“, so haben wir unseren Text überschrieben. Und das gilt wahrscheinlich für alles, was wir mit den hier genannten Begriffen verbinden. Was Freiheit bedeutet, fällt uns erst auf, wenn sie uns abhandenkommt, was Macht bedeutet, fällt uns erst auf, wenn sie missbraucht wird, um Menschen zu unterdrücken. Bei der Würde ist es genauso. Wir erkennen besonders klar, was Würde bedeutet, angesichts würdeloser Zustände. Dann erst leuchtet uns ein, dass wir verdammt viel zu verlieren haben.

Warum diese neue Titelserie? Ich finde, wenn die Welt mehr und mehr in Unordnung gerät, und wenn es darum auch in den Diskussionen immer unübersichtlicher wird, wenn unsere Gesellschaft stellenweise hysterisch überdreht, dann ist es höchste Zeit für ein bisschen Besinnung und Orientierung. Wo stehen wir, was ist eigentlich unsere Basis? Was ist wirklich wichtig? Um was müssen wir uns dringend kümmern? Um die Zentralheizung im Keller? Oder doch lieber um unsere Demokratie? Um unseren Zusammenhalt? Wenn ich mich momentan umsehe, bin ich mehr als besorgt. Aber nicht allein wegen des inzwischen sehr sichtbaren Klimawandels, wegen der vielen Kriege auf der Welt, wegen der Inflation, wegen unseres gefährdeten Wohlstands, ich bin besorgt, weil uns die richtigen Antworten zu fehlen scheinen, und weil sich immer mehr Menschen jenen zuwenden, die verkürzte Antworten bieten. Ich bin besorgt, weil der Kompass sich verstellt, weil wir in eine falsche Richtung driften. Ich bin besorgt, weil selbst jene, die es besser wissen müssten, inzwischen eher mal nach rechts blinken, weil man die Sorgen der Menschen ja ernst nehmen muss. Muss man das? Muss es nicht eher darum gehen, sich endlich darum zu kümmern, die Probleme zu lösen? Dann würden sich „die Menschen“ auch nicht mehr so viele Sorgen machen. Und sich auch nicht mehr umsehen nach vermeintlich Schuldigen für die Misere.

Die Probleme lösen, das können wir nur, wenn wir bei unseren Grundlagen einig sind. Wenn unsere Ziele übereinstimmen. Wenn wir klar haben, in was für einer Welt wir gemeinsam leben wollen. Wenn ich aber höre, was zum Bespiel Christian Lindner beim Thema Kindergrundsicherung in den vergangenen Tagen so verlauten lässt, dann habe ich arge Zweifel, ob sich das mit meinen Grundlagen deckt. Wenn ich den Argumenten unseres Finanzministers folge, dann scheint es so zu sein, dass die Eltern sich mehr Geld mutmaßlich nur in die eigene Tasche stecken würden. Was für ein absurdes Menschenbild. Welche Klischees, welche Vorurteile haben sich da in Linders Hirn festgesetzt. Kann er sich bitte mal mit ein paar alleinerziehenden Müttern zusammensetzen und das besprechen. Ob er so eine Runde wohl gesund überstehen würde?

Es ist gut und richtig, die unterschiedlichen Diskussionen in unserer Gesellschaft an genau solchen Punkten aufzunehmen. Was ist das grundsätzliche Problem? Was muss sich schnell ändern? Was kann man besser machen. Jedes fünfte Kind ist in Deutschland armutsgefährdet. Das ist eine Schande. Und ich möchte angesichts solcher Zustände nicht mit Christian Lindner darüber diskutieren, ob es Eltern gibt, die sich lieber Zigaretten kaufen als den Kindern Nachhilfeunterricht zu bezahlen. Eltern, denen die FDP auf der anderen Seite zugesteht, dass sie so verantwortungsvoll sind, dass sie niemals im Auto in Anwesenheit ihrer Kinder rauchen würden. Merkste selber, oder?

Viel Spaß mit dieser Ausgabe!

 

Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind 

 

 

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Editorial 2023-06

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Editorial 2023-06


Liebe Leser*innen,

der Juni ist der Pride Month, die LGBTQI+-Community feiert auf verschiedenste Arten stolz die eigene Existenz. Der Monat steht für Toleranz und Selbstbewusstsein, alle kämpfen gemeinsam gegen Kriminalisierung, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Und leider ist das noch immer bitter nötig. Denn nach wie vor haben viele Menschen, auch in Deutschland, große Probleme mit der sexuellen Orientierung anderer, mit der Geschlechtsidentität oder der geschlechtlichen Ausdrucksform von Menschen. Sie lehnen alles ab, was von der sogenannten gesellschaftlichen Norm abweicht, die sie natürlich höchstselbst definieren. Ich würde mir sehr wünschen, dass das irgendwann mal aufhört und wir alle miteinander realisieren, dass die gesellschaftliche Norm Vielfalt ist.

Aber das scheint wohl doch nur ein schöner Traum. Mir sind Menschen, die ein Problem mit dieser Vielfalt haben, ein echtes Rätsel. Was treibt die an? Illi Hinzberg hat in ihrem Text über Queerfeindlichkeit ab Seite 54 sehr klare Worte dafür gefunden, was mir bei diesem Thema immer wieder durch den Kopf geht: „Was auch immer in deinem Ausweis steht – wenn du ein Arschloch bist, bist du ein Arschloch. Mit entsprechenden Pronomen.“ Das bringt es für mich ganz einfach und klar auf den Punkt. Wichtig ist, wer da oben im Kopf wohnt. Und wenn da kein Arschloch wohnt, ist mir das sympathisch. Die sexuelle Orientierung, die Geschlechtsidentität oder die geschlechtliche Ausdrucksform ist mir dabei völlig egal.

Und ich finde es ausgesprochen ärgerlich, dass wir uns im 21. Jahrhundert noch immer mit diesem Thema beschäftigen müssen. Dass es nach wie vor verschiedenste Formen der Diskriminierung gibt. Ablehnung, Hass, Stigmatisierung, Mobbing, Gewalt, soziale Ausgrenzung und nicht zuletzt rechtliche Benachteiligungen – die Liste ist lang. Queerfeindlichkeit ist ein echtes Problem und kein netter Spaß im Bierzelt. Betroffene Personen kämpfen oft mit psychischen Belastungen wie Depressionen oder Angstzuständen, sie machen Gewalterfahrungen und haben Suizidgedanken. Ich finde, das ist eine Schande für unsere Gesellschaft. Es ist höchste Zeit, dass wir endlich einen nächsten großen Schritt in Sachen Zivilisation wagen und unsere Vorurteile und Ressentiments vollständig ablegen. Wie schaffen wir das? Ganz einfach, durch Begegnung. Durch Neugier. Durch Offenheit. Aber nicht durch Toleranz, denn Tolerieren im Sinne von Dulden geht am Thema absolut vorbei, das schafft eine Hierarchie, die es nicht gibt. Oder geben sollte.

Leider habe ich die Befürchtung, dass dieser nächste Zivilisationsschritt so bald nicht kommen wird. Im Gegenteil, ich vermute, dass wir momentan eher eine Ehrenrunde drehen. Wenn ich sehe, wie bei ganz jungen Menschen längst überwunden geglaubte Rollen und Muster momentan eine Renaissance erleben, wie plötzlich wieder sehr konservative Werte hochgehalten werden, bin ich ziemlich alarmiert. Und befürchte eher ein Rollback in die 50er-Jahre. Es hilft wohl nichts, wir müssen an dem Thema dranbleiben, wir müssen aufklären über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, über das, was wirklich normal ist – immer wieder und immer wieder von vorne.

Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind  

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Editorial 2023-04

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Editorial 2023-04


Liebe Leserinnen und Leser,

mir ist bei der Lektüre der Leser*innenbriefe zu meinem Standpunkt über Waffenlieferungen in die Ukraine ein Gedanke immer wieder durch den Kopf gegangen: Wäre es wohl möglich, sich mit den ganz harten Kritiker*innen zusammenzusetzen und miteinander faktenbasiert und ergebnisoffen zu diskutieren? Ich befürchte fast, das würde nicht funktionieren. Denn in den Briefen steckt derart viel Unterstellung und Interpretation, dass allein das Ausräumen von Irrtümern, was meine Person angeht, wahrscheinlich schon eine Woche dauern würde. Nur kurz und grundsätzlich, ich bin nicht Mitglied irgendeiner Partei, das Stadtkind wird auch nicht von irgendeiner Partei finanziert, niemand diktiert mir meine Texte oder macht mir irgendwelche Vorgaben, ich denke nicht, dass ich Nachhilfe zur jüngeren Geschichte der USA benötige, ich weiß sehr genau, wo auf der Welt diese Nation in der Vergangenheit großes Unheil angerichtet hat und teilweise noch dabei ist (was den Angriffskrieg Russlands aber nicht rechtfertigt und nicht besser macht, sorry). Ich kenne dazu ziemlich genau die Geschichte der NATO. Und ich kenne ziemlich genau die Geschichte Russlands vor Putin und während Putin bis heute. Ich sehe mich auch nicht als grünes und mit goldenem Löffel im Mund geborenes Bildungsbürgerarschloch, gefangen in meiner woken Bubble. Und ich freue mich darüber, dass Einige mich für jünger halten als ich bin, was in der Logik der mir Schreibenden meine geschichtlichen Wissensdefizite erklärt, denn man weiß ja, dass die Kinder heutzutage in der Schule gar nichts mehr lernen. Wobei, dass mit dem Alter könnte auch mit dem Foto hier unten zu tun haben, das zugegeben schon wieder ein paar Jahre auf dem Buckel hat.

Es ist schon wirklich erstaunlich, was Menschen über Menschen zu wissen glauben, ohne diese Menschen zu kennen. Wie auch immer, meine Grübelei über die Leser*innenbriefe hat mich dazu geführt, mir mal ein bisschen grundsätzlicher Gedanken über unsere Debattenkultur zu machen. Bringen uns unsere Debatten eigentlich weiter? Wie diskutieren wir miteinander? Wie kommen wir miteinander ins Gespräch? Ich muss zugeben, dass ich mich hin und wieder dabei erwische, wovor ich ab Seite 52 sehr entschieden warne, nämlich mich resigniert zu verabschieden aus den Diskussionen, mich herauszuhalten, mich nicht mehr zu interessieren. Mir passiert das in letzter Zeit leider häufiger. Weil ich manche Diskussionen derart unerträglich finde, dass ich mir das Elend einfach nicht antun kann und will. Da wird derart offensichtlich nicht über Lösungen debattiert, nicht über tatsächliche Probleme, da geht es lediglich einzig um das Profil der Diskutierenden und vielleicht noch um das Profil der Partei, in die man irgendwann hineingeraten ist. Volker Wissing hat jetzt die Verbrenner mit e-Fuels gerettet und Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht habe in Berlin eine Demo veranstaltet. Und jetzt? Habe ich zweimal ratlos den Kopf geschüttelt. Aber es hat ja funktioniert, Volker Wissing ist in den Umfragen beliebter als zuvor (warum auch immer) und Sahra Wagenknecht fühlt sich sogar so beliebt, dass sie darüber nachdenkt, Ende des Jahres eine eigene Partei zu gründen. Was war sonst noch?

Ich finde tatsächlich, dass wir uns manche Debatten besser sparen sollten. Um mehr Kapazitäten zu haben für wirklich wichtige Fragen und Diskussionen. Mir fällt da jede Menge ein. Wie verlangsamen wir den Klimawandel? Wie schützen wie unsere Demokratie? Wie ziehen wir dem Kapitalismus die Zähne? Aber vielleicht debattieren wir auch zu viel. Vielleicht haben wir gar kein Debattendefizit, sondern ein Vollzugsdefizit. Ich finde, dass wir tatsächlich an viele Diskussionen mittlerweile einen Haken machen und allmählich mal loslegen sollten. Was passieren muss, ist doch allen einigermaßen klar, außer vielleicht Volker Wissing.

Nicht zuletzt noch kurz zu einem Thema, das nicht nur mich momentan sehr beschäftigt. Ich bin in den vergangenen Wochen mehrmals gefragt worden, wie sehr ich mich über ChatGPT freue, weil ich damit doch jetzt einen Großteil meiner Kosten einsparen könnte. Redakteur*innen seien ja nun nicht mehr nötig und auch ich selbst könnte ein bisschen kürzertreten. Ich finde diesen Gedanken seltsam. Ich will gar nicht kürzertreten, die Schreiberei macht mir Spaß. Und mir macht es außerdem Spaß, Texte von anderen zu lesen, von anderen aus Fleisch und Blut, mit Namen und Persönlichkeit und Fehlern. Und darum wird ChatGPT und auch sonst keine KI bei mir auf absehbare Zeit einen Job bekommen. Wir machen das schön weiter mit unseren eigenen Gehirnen und in Handarbeit. Und falls irgendwann ein Stadtmagazin auftaucht, dass mit viel klügeren und witzigeren KI-Texten punktet, und das Stadtkind damit ausgedient hat, sage ich hier schon mal vorab: Ich sitze dann wahrscheinlich am Kröpcke, so lange Martin Prenzler mich lässt, und spiele Gitarre und bin dankbar für jede Münze im Hut.

Viel Freude mit dieser Ausgabe wünscht
Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind

PS: Ihr findet uns übrigens auch im Fediverse auf Mastodon:
https://norden.social/@Stadtkind

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Editorial 2022-07: Über Öffentlichkeit

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Editorial 2022-07: Über Öffentlichkeit


Liebe Leserinnen und Leser,

in dieser Ausgabe habe ich mit Bettina Wulff über „Öffentlichkeit“ gesprochen, und mir ist bei unserem Treffen sehr schnell (und mal wieder) klar geworden, dass die persönliche Begegnung der Schlüssel ist für ein gutes und faires Miteinander. Ich hatte sie natürlich vorher in eine Schublade gesteckt, ich war mir sicher, sie schon ganz gut zu kennen, weil ich so viel gehört hatte. Und dann sitzt da gar nicht die Frau, die ich erwartet hatte. Bettina Wulff hat mich beeindruckt, offen und geradeaus, sehr reflektiert, stellenweise auch ganz schön nachdenklich.

Wieder eine Schublade, die ich zum Sperrmüll packen muss. Und auf der Kippe liegen schon etliche. Natürlich. Man bildet sich sein Urteil in ein paar Sekunden. Mag man jemanden? Mag man jemanden nicht? Wenn man sich entschließt, jemanden zu mögen, und der entpuppt sich im Nachhinein als ganz unangenehmer Zeitgenosse, braucht es eine Weile, bis das durchdringt und man sein erstes Urteil revidiert. Wenn man andersherum jemanden spontan nicht mag, dann kann der noch so nett sein, wir werden sein Verhalten, seine Gesten, seine Worte so interpretieren, dass unser Urteil bestätigt wird. Das mit der Fairness ist also keine so einfache Angelegenheit. Man muss sich immer wieder Mühe geben. Es ist eine Aufgabe.

Leider habe ich den Eindruck, dass die Tendenz momentan allgemein eher zur Gegenrichtung neigt. Man findet kübelweise Hass im Netz – ganz ohne danach gesucht zu haben. Und dieser Hass trifft nicht nur öffentliche Menschen, nicht nur Promis und Stars, dieser Hass kann zunehmend einfach jede und jeden treffen. Ein falsches Wort, ein falsches Bild – und man erlebt den Shitstorm seines Lebens. Im Netz fallen einem all die Schmähungen und Beleidigungen, all die Verwünschungen und Drohungen, selbst Todesdrohungen, offenbar leichter, im Netz lässt man sich eher zum asozialen Verhalten hinreißen. Wenn man sein Opfer nicht direkt erlebt, es womöglich nur als Nickname oder Avatar kennt, wenn man seine Reaktion womöglich gar nicht mitbekommt, wenn all die Beleidigungen und Drohungen ohnehin nicht geahndet werden – was ja kürzlich erst ein Jan Böhmermann eindrucksvoll aufgezeigt hat, dann beleidigt es sich völlig ungeniert. Und im Netz macht sich zugleich jeder und jede etwas angreifbarer, gibt vor aller Welt viel, vielleicht zu viel, von sich Preis. Auch das hat sich ja mit dem Internet geändert, das vielleicht eben tatsächlich noch Neuland für uns alle ist, wie Angela Merkel einmal sagte und dafür sehr gescholten wurde.

Wobei die Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, schon immer mit harter Kritik und gemeinen Schmähungen leben mussten. Und in Zeiten des Internets meistens natürlich noch weitaus inflationärer dran sind. Das zu verstehen, fällt mir schwer. Es muss im Leben der Menschen, die andere derart beleidigen und diffamieren, sehr düster aussehen. Ich bin ein bisschen überfragt bei solchen Menschen. Ich sehe die Dokumentationen über diese Phänomene und rätsele trotzdem. Macht das diesen Leuten wirklich Spaß? Sind das im Netz nur all die Mr. Hydes der normalen Dr. Jekylls um uns herum? Oder sind das Gestalten, denen ihr Treiben auch in der Realität einen ganz großen Spaß beschert? Fehlt mir da vielleicht irgendein Gen? Ich kann es jedenfalls nicht nachvollziehen, ich kann den Antrieb dieser Leute nicht verstehen und finde solche Menschen im Grunde einfach bloß bedauernswert.

Bettina Wulff hat mir ab Seite 50 u.a. erzählt, dass sie sich lange sehr viel hat gefallen lassen. Aber dass es dann irgendwann einfach auch genug war. Sie hat sich sogar mit Google angelegt. Sie hat gekämpft und letztlich hat sie gewonnen. Für sich und für andere. Eine Art der Selbstermächtigung, an der man sich tatsächlich ein Beispiel nehmen kann. Es ist möglich, sich zu wehren. Vielleicht sollten wir uns alle viel mehr wehren. Es wäre unserer Gesellschaft sehr zu wünschen. Und es wäre auch unserer Demokratie zu wünschen. Immer weniger Menschen zieht es in die Politik – wenn man sieht, was die tagtäglich aushalten müssen, ist das gar kein Wunder. Aber was wird aus einer Demokratie ohne Politiker*innn?

Viel Spaß mit dieser Ausgabe!

Lars Kompa

Herausgeber Stadtkind

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