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Editorial 2022-07: Über Öffentlichkeit

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Editorial 2022-07: Über Öffentlichkeit


Liebe Leserinnen und Leser,

in dieser Ausgabe habe ich mit Bettina Wulff über „Öffentlichkeit“ gesprochen, und mir ist bei unserem Treffen sehr schnell (und mal wieder) klar geworden, dass die persönliche Begegnung der Schlüssel ist für ein gutes und faires Miteinander. Ich hatte sie natürlich vorher in eine Schublade gesteckt, ich war mir sicher, sie schon ganz gut zu kennen, weil ich so viel gehört hatte. Und dann sitzt da gar nicht die Frau, die ich erwartet hatte. Bettina Wulff hat mich beeindruckt, offen und geradeaus, sehr reflektiert, stellenweise auch ganz schön nachdenklich.

Wieder eine Schublade, die ich zum Sperrmüll packen muss. Und auf der Kippe liegen schon etliche. Natürlich. Man bildet sich sein Urteil in ein paar Sekunden. Mag man jemanden? Mag man jemanden nicht? Wenn man sich entschließt, jemanden zu mögen, und der entpuppt sich im Nachhinein als ganz unangenehmer Zeitgenosse, braucht es eine Weile, bis das durchdringt und man sein erstes Urteil revidiert. Wenn man andersherum jemanden spontan nicht mag, dann kann der noch so nett sein, wir werden sein Verhalten, seine Gesten, seine Worte so interpretieren, dass unser Urteil bestätigt wird. Das mit der Fairness ist also keine so einfache Angelegenheit. Man muss sich immer wieder Mühe geben. Es ist eine Aufgabe.

Leider habe ich den Eindruck, dass die Tendenz momentan allgemein eher zur Gegenrichtung neigt. Man findet kübelweise Hass im Netz – ganz ohne danach gesucht zu haben. Und dieser Hass trifft nicht nur öffentliche Menschen, nicht nur Promis und Stars, dieser Hass kann zunehmend einfach jede und jeden treffen. Ein falsches Wort, ein falsches Bild – und man erlebt den Shitstorm seines Lebens. Im Netz fallen einem all die Schmähungen und Beleidigungen, all die Verwünschungen und Drohungen, selbst Todesdrohungen, offenbar leichter, im Netz lässt man sich eher zum asozialen Verhalten hinreißen. Wenn man sein Opfer nicht direkt erlebt, es womöglich nur als Nickname oder Avatar kennt, wenn man seine Reaktion womöglich gar nicht mitbekommt, wenn all die Beleidigungen und Drohungen ohnehin nicht geahndet werden – was ja kürzlich erst ein Jan Böhmermann eindrucksvoll aufgezeigt hat, dann beleidigt es sich völlig ungeniert. Und im Netz macht sich zugleich jeder und jede etwas angreifbarer, gibt vor aller Welt viel, vielleicht zu viel, von sich Preis. Auch das hat sich ja mit dem Internet geändert, das vielleicht eben tatsächlich noch Neuland für uns alle ist, wie Angela Merkel einmal sagte und dafür sehr gescholten wurde.

Wobei die Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, schon immer mit harter Kritik und gemeinen Schmähungen leben mussten. Und in Zeiten des Internets meistens natürlich noch weitaus inflationärer dran sind. Das zu verstehen, fällt mir schwer. Es muss im Leben der Menschen, die andere derart beleidigen und diffamieren, sehr düster aussehen. Ich bin ein bisschen überfragt bei solchen Menschen. Ich sehe die Dokumentationen über diese Phänomene und rätsele trotzdem. Macht das diesen Leuten wirklich Spaß? Sind das im Netz nur all die Mr. Hydes der normalen Dr. Jekylls um uns herum? Oder sind das Gestalten, denen ihr Treiben auch in der Realität einen ganz großen Spaß beschert? Fehlt mir da vielleicht irgendein Gen? Ich kann es jedenfalls nicht nachvollziehen, ich kann den Antrieb dieser Leute nicht verstehen und finde solche Menschen im Grunde einfach bloß bedauernswert.

Bettina Wulff hat mir ab Seite 50 u.a. erzählt, dass sie sich lange sehr viel hat gefallen lassen. Aber dass es dann irgendwann einfach auch genug war. Sie hat sich sogar mit Google angelegt. Sie hat gekämpft und letztlich hat sie gewonnen. Für sich und für andere. Eine Art der Selbstermächtigung, an der man sich tatsächlich ein Beispiel nehmen kann. Es ist möglich, sich zu wehren. Vielleicht sollten wir uns alle viel mehr wehren. Es wäre unserer Gesellschaft sehr zu wünschen. Und es wäre auch unserer Demokratie zu wünschen. Immer weniger Menschen zieht es in die Politik – wenn man sieht, was die tagtäglich aushalten müssen, ist das gar kein Wunder. Aber was wird aus einer Demokratie ohne Politiker*innn?

Viel Spaß mit dieser Ausgabe!

Lars Kompa

Herausgeber Stadtkind

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Editorial 2022-06: Über Wohlstand

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Editorial 2022-06: Über Wohlstand


Liebe Leserinnen und Leser,

es lag natürlich nahe, nach dem Thema „Armut“ in der Ausgabe Mai, in dieser Juni-Ausgabe das Thema Wohlstand ein bisschen näher zu beleuchten.
Gesprochen habe ich darüber mit Dr. Athanasios Karathanassis, sein Hauptarbeitsfeld ist die Kritische Politische Ökonomie. Er beschäftigt sich also unter anderem mit den Hintergründen von Armut und Reichtum, mit den Krisen im Kapitalismus und mit der Rolle der Natur in einer auf maßloses Wachstum abzielenden Ökonomie. Und inzwischen stellt er zusätzlich auch die Frage nach grundsätzlichen gesellschaftlichen Alternativen.
Ich sage es besser gleich, der Kapitalismus kommt nicht besonders gut davon in unserem Gespräch. Im Gegenteil. Er scheint mehr Problem als Lösung zu sein. Man kommt tatsächlich sehr ins Grübeln, vor allem in diesen Zeiten.

Die Diskrepanz zwischen Wohlstand und Moral ist momentan sehr offensichtlich. Deutschland ist gespalten bei der Frage, ob man weiter russisches Gas und Öl importieren soll. Finanziert man so nicht sehr direkt den Krieg in der Ukraine? Aber wenn wir nun verzichten, fügen wir dann nicht unserer Wirtschaft auf der anderen Seite einen riesigen Schaden zu, der sich in den nächsten Jahren sicher nicht reparieren lässt?
Was ist dann mit unserem Wohlstand?
Aus der Wirtschaft und auch aus den Parteien hören wir Schreckensszenarien. Natürlich, ein vollständiges Embargo würde große Teile unserer Wirtschaft hart treffen. Aber wenn wir mit einem Embargo helfen können, den Krieg in der Ukraine schnell zu beenden, muss es uns das nicht Wert sein? Wie gesagt, Deutschland ist wie selten geteilter Meinung, übrigens auch bei der Frage zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine.
Ich würde es sehr spannend finden, die jeweiligen Hälften abzugleichen mit den jeweiligen Vermögensverhältnissen auf beiden Seiten. Und ich wage mal eine steile These: Ich glaube, all jene, die eher wenig haben, befürworten ein Embargo und die Lieferung schwerer Waffen. Und je besser die Vermögensverhältnisse sind, desto größer wird das Unbehagen angesichts solcher Schritte. Wer mehr hat, hat eben mehr zu verlieren. Und die Menschen in Deutschland haben viel zu verlieren. Zumindest vergleichsweise.

Wir leben in einem relativen Wohlstand, verglichen mit anderen Ländern. Aber haben wir auch ein gutes Leben, sind wir entspannt und zufrieden, sind wir glücklich? Was verteidigen wir da eigentlich für einen Wohlstand?
Ich habe nicht den Eindruck, dass wir besonders glücklich sind. Und ich habe ehrlich gesagt immer weniger diesen Eindruck. Mir kommt im Gegenteil unsere Gesellschaft angespannt und abgehetzt vor, müde, erschöpft. Alle rennen um die Wette, kaum jemand scheint anzukommen. Fast alle haben Angst um ihre Existenz, Corona hat deutliche Spuren hinterlassen.
Und nun noch dieser Krieg.
Und die Inflation. Die drohenden wirtschaftlichen Folgen. Ohne Frage, unser Wohlstand ist massiv bedroht. Wir bangen um unsere Ersparnisse. Wir haben Angst. Eben noch hat sich alles halbwegs sicher angefühlt, eben noch waren unsere kleinen Geldspeicher ganz gut gefüllt und nicht in Gefahr, nun merken wir, dass wir global gesehen schon eine ganze Weile an der Kante balancieren. Unsere Welt ist plötzlich fragil.
Und es sieht nicht so aus, dass eine Rückkehr in ruhigeres Fahrwasser möglich ist. Zumal wir auf die Krisen unserer Zeit aus meiner Sicht mit den Ideen aus dem vergangenen Jahrhundert reagieren. Wir bewaffnen uns wieder bis an die Zähne und Christian Lindner ist überzeugt, dass Wachstum und Innovation am Ende alles zum Guten wenden werden.
Zum Guten für wen?
„Im Jahr 2016 besaßen die 62 reichsten Menschen der Welt mehr als die ärmere Hälfte der Welt. Und auch in Deutschland ist diese Entwicklung nachweisbar: Nach Angaben der Europäischen Zentralbank von 2017 besaßen die reichsten zehn Prozent in Deutschland 60 Prozent des gesamten Vermögens. Die reichsten 45 Deutschen besaßen vermutlich mehr als 50 Prozent. Und das mit steigender Tendenz“, diese Zahlen höre ich von Dr. Karathanassis in unserem Gespräch.
Ja, irgendwas läuft hier schief und gewaltig aus dem Ruder. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass wir uns endlich die richtigen Fragen stellen. Ich glaube, wir müssen den Begriff Wohlstand ganz neu definieren, ihn mit neuen Inhalten füllen, ich glaube, wir sind unterwegs auf diversen Holzwegen. Ich bin davon schon eine ganze Weile überzeugt, nach meinem Gespräch mit Dr. Karathanassis bin
ich (leider) noch überzeugter. Und noch skeptischer beim Thema Kapitalismus.
Dazu hier an dieser Stelle zuletzt noch ein paar Sätze von Dr. Karathanassis, über die es sich aus meiner Sicht nachzudenken lohnt:
„Es war nie Absicht dieser Form der Ökonomie, für Gerechtigkeit und eine Bedarfsdeckung der Bevölkerung zu sorgen. Für die Sieger einer sich universalisierenden Konkurrenz ist Kapitalismus ein privater Segen. Der Reichtum der Global Player, beziehungsweise multinationaler Konzerne hat astronomische Höhen erreicht. Für den überwiegenden Großteil der Menschheit sind die Folgen des Kapitalismus aber nicht Wohlstand und Emanzipation, sondern Härte, Überlebenskampf und Naturzerstörung.“
Das ganze Gespräch ab Seite 52.
Viel Spaß mit dieser Ausgabe!
Lars Kompa
Herausgeber Stadtkind

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