Dorit David: Unter ihren Augen

Anfang der Zwanzigerjahre breitet sich in der jungen Weimarer Republik ein völlig neues Lebensgefühl aus: Althergebrachtes verliert seine Selbstverständlichkeit, Moral und Sittlichkeitsdenken sind im Wandel, Aufbruchstimmung liegt in der Luft. Auch die sechzehnjährige Lieselotte Daube steckt voller Tatendrang. Als Kind einfacher Arbeiter ist sie im ärmlichen Conti-Viertel in Hannover aufgewachsen, doch statt sich in ihr Schicksal zu fügen, will sie dasselbe wie die vermögenden Bürgertöchter – nämlich ein modernes und unabhängiges Leben führen. Um zu lernen, wie man auf den eigenen, kraftvollen Beinen steht, bewirbt sich Lotte an der „Frauenkörperschule für Gymnastik und Atmung“, die von Berta Habenicht geleitet wird, einer emanzipierten und seltsam betörenden Erscheinung. Unter ihren Augen kommt Lottes tänzerisches Talent zu voller Entfaltung, aber auch ein lange verleugnetes Gefühl ans Tageslicht …

Ausgerechnet die Augen sind es, die Lotte an Berta Habenicht sofort auffallen, als das Mädchen sie auf der Bühne der „Schauburg“ – damals Hannovers Theater Nummer Eins – zum ersten Mal erblickt: „Den braun-gelben Blick würde sie nie vergessen. Sonnendurchflutet – zeitlos und warm. In Lotte war nur Aufruhr. Wildwasser. Irritiert wandte sie sich ab […] aber die Bewegung in ihr hörte nicht auf. Als hätte der Blick der luchsäugigen Fremden in ihr etwas zum Keimen gebracht. Einen Winzling, der in ihrer Seele Wurzeln schlug und aus dem noch am selben Abend ein Halm trieb, der sich zu einem Stengel auswuchs und an dessen Ende eine Knospe aufbrach.“
Die Faszination scheint in beide Richtungen zu gehen, denn bei der Musterung ihrer neuen Elevinnen ist Berta Habenicht von Lottes Körperwuchs und Haltung beeindruckt, viel mehr aber noch von ihrer unterschwellig brodelnden Leidenschaft. So wird das Mädchen trotz fehlender finanzieller Mittel an der Akademie aufgenommen und tritt die zweijährige Ausbildung zur Gymnastiklehrerin an, wobei sie sich rasch zur Jahrgangsbesten mausert – sehr zum Stolz ihrer Patentante Almut Brostel, die ihre „Quasitochter“ nach Kräften fördert und sogar bei sich wohnen lässt. Obwohl Lotte ihr dafür sehr dankbar ist, bleibt sie meistens doch lieber für sich in ihrem Zimmer und sinnt über Berta Habenichts Lehren nach, die unter bürgerlichen TanzliebhaberInnen als skandalös gelten. Denn Berta plädiert für einen schambefreiten Umgang mit der (weiblichen) Sexualität, für eine Entfesselung des Körperlichen auf der Bühne und im alltäglichen Leben. Als Teil der hannoverschen Bohème ist sie außerdem regelmäßig in der angesagten Künstlerkneipe „Windmühlendiele“ zu Gast. Oder gibt es doch andere Gründe für ihre häufigen Besuche in dem Lokal, das angeblich ein Treffpunkt für „Freunde“ und „Freundinnen“ sein soll? Die Gerüchte, dass Berta Habenicht eine lesbische Liebesbeziehung führt, will Lotte anfangs nicht wahrhaben, ebenso wenig ihre eigenen, verwirrenden Gefühle. Als sie sich schließlich doch Bahn brechen, ist sie von Bertas Reaktion tief verletzt – und holt in ihrer grenzenlosen Wut zu einem fürchterlichen Schlag aus …
Für ihren neusten Roman hat Dorit David auf eine Begebenheit zurückgegriffen, die sich während der kurzen Blütezeit der Gymnastikschulen in Hannover tatsächlich zutrug. Ihr Interesse an der norddeutschen Tanz- und Theaterkultur kommt dabei nicht von ungefähr, denn die 1968 in der Uckermark geborene Schauspielerin und Theaterpädagogin ist auf der Bühne zu Hause. 1993 absolvierte sie an der TuT Schule für Clown, Komik und Theater eine Ausbildung zur Clownin, mittlerweile ist sie dort als Dozentin tätig. Neben weiteren Schauspieltätigkeiten in den Ensembles „Spielweiber“ und „Hannover98“ veröffentlicht sie regelmäßig Illustrationen, Bilderbücher und Romane, die das Etikett „Frauenliteratur“ selbstbewusst für sich reklamieren. Denn in ihren Geschichten werden Frauenfiguren, deren Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Frauen, jenseits aller Klischees präsentiert. So zeichnet auch „Unter ihren Augen“ ein komplexes Geflecht aus menschlichen Leidenschaften nach, in dessen Mittelpunkt das Porträt einer jungen Frau steht, die aus verletztem Stolz und Selbstverleugnung zu zerstören droht, was sie liebt.  AD

Unter ihren Augen
von Dorit David
Querverlag, 2020
ISBN 978-3-89656-285-2
416 Seiten
18,00 Euro


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