Tag Archive | "2022-01"

Sbar

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Direkt am Platz der Lutherkirche in der Nordstadt findet man die Sbar. Die 55 Plätze im Innenraum sind zu „normalen“ Zeiten ohne Pandemie immer gut besucht, die noch einmal rund 120 Plätze im wirklich schön gestalteten Außenbereich sind im Sommer heiß begehrt. Dass man in der SBar ziemlich lecker essen kann, hat sich inzwischen nicht nur in der Nordstadt herumgesprochen. Die Speisekarte ist eine gelungene Mischung aus Klassikern wie der Currywurst oder Schnitzel in einigen interessanten Varianten, dazu gibt es sehr leckere Salate, spannende Burger-Variationen und Pasta-Ideen sowie einige weitere Highlights. Und wie man Cocktails mixt, ist hier ebenfalls kein Geheimnis.  

Wir freuen uns über die freundliche Begrüßung und nachdem wir die inzwischen schon gewohnten Corona-Pflichten erledigt haben, sitzen wir bei gemütlichem Licht und angenehmer Musik am Fenster und stöbern in der Karte. Auch für Vegetarier gibt es hier ein paar schöne Möglichkeiten, beispielsweise den Rösti Vegetarisch. Auf dem Teller finden sich zwei knusprige Kartoffelröstis, die wirklich lecker sind, dazu sehr passend gegrilltes mediterranes Gemüse, eine umfangreiche Salatbeilage und Sour Cream. Da wir bezweifeln, dass die zwei Röstis für den großen Hunger reichen, den wir mitgebracht haben, erweitern wir unsere Bestellung um zwei Extra-Röstis, was überhaupt kein Problem ist. Aber ein Fehler. Denn die Portion wäre auch ohne Upgrade allemal ausreichend gewesen.
Ein Tipp in der Sbar sind für Vegetarier auch die Salate. Sehr lecker ist beispielsweise der Salat Sbar, der zunächst mit Blattsalaten, Gurke, Tomate, Mais, Paprika, Möhren und roten Zwiebeln eher übliche Zutaten mitbringt, dazu gibt es aber gebratene Champignons, Bratkartoffeln und Schafskäse, was in der Kombination mit dem Honig-Senf-Dressing ganz wunderbar funktioniert. Und auch hier wird durchaus der große Hunger gut bedient.
Natürlich darf ein Burger auf unserem Tisch nicht fehlen. Genauer werden es gleich zwei. Der Veggie Burger mit Gemüseschnitzel, Salat, Tomate, Gewürzgurke, Sour Creme und „Sbar Burger Dressing“ lässt keine Wünsche offen, dazu gibt es „Sbar Home Fries“. Das ist alles sehr gut gemacht. Und auch der Western Burger überzeugt mit Black Angus Beef, zwei Scheiben Bacon, Tomate, Gewürzgurke, roten Zwiebeln und „Sbar Burger Dressing“. Die Sbar kann Burger, gar kein Zweifel. Man kann sich hier durch eine ganze Palette probieren, Chicken Burger, Classic Cheese Burger, BBQ Bacon, Burning Love, Italian Burger oder Surf&Turf Burger – die Liste ist lang.
Da wir es bei diesem Besuch schon reichlich übertrieben haben, so sehr, dass wir den Nachtisch auslassen mussten, kehren wir ein paar Tage später für den Pasta-Test zurück. An den Pelmeni geht natürlich kein Weg vorbei. Die handgemachten Teigtaschen mit einer Rindfleischfüllung nach sibirischer Art (so steht es in der Karte), mit geschmolzener Butter und Schmand sowie selbstgemachter Adjika, eine Paste, meistens aus Tomaten, Karotten, Paprika, Knoblauch und Chilli, dazu Apfel, was die Sache noch aromatischer macht, überzeugen uns voll und ganz. Ob jetzt noch die Rustico Porcini passen? Die Teigtaschen sind gefüllt mit Ricotta und Steinpilzen, dazu gibt es gebratene Champignons, geschmolzene Salbeibutter und Grana Padano. Keine Fragen.
Wir probieren noch die Rustico Formaggio di Capra, Teigtaschen mit einer Füllung aus Ziegenfrischkäse und Rosmarin, dazu geschmolzene Walnussbutter, Rucola und Grana Padano – und wir sind noch einmal begeistert.
In der Sbar kann man definitiv gut essen gehen, zumal der Service sehr aufmerksam ist und Fragen gerne beantwortet. Die Preise für die Gerichte bewegen sich hier um zehn Euro, was mehr als angemessen ist. Für den Nachtisch müssen wir demnächst noch einmal vorbeischauen. Ach ja, auch die Cocktails kann man sehr empfehlen – aber das ist eine andere Geschichte. Wir kommen wieder!       ● JB

Sbar Hannover
An der Lutherkirche 13
30167 Hannover
info@s-bar-hannover.de
0511 – 353 960 99
Di – Sa 16 – 0 Uhr

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Ein letztes Wort im Januar

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Ein letztes Wort im Januar


Wir müssen natürlich über Corona sprechen. Derzeit reißt ja vielen Menschen der Geduldsfaden, wenn es um das Thema Impfverweigerer geht. Günther Jauch hat die Stimmung neulich auf den Punkt gebracht und gesagt, dass die Impfverweigerer Millionen Menschen in Geiselhaft nehmen würden. Hat er da recht?
Das ist natürlich eine sehr drastische Formulierung. Aber Joe Biden hat von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen, Robert Habeck von einem Lockdown für Ungeimpfte. Und in diese Richtung geht es jetzt einfach. Aus meiner Sicht führt um das Thema auch kein Weg herum. Wir haben schlicht viel zu viel Virusgeschehen in unserer Gesellschaft. Und diese Viruslast konzentriert sich überwiegend bei den Ungeimpften. Noch deutlicher ist der Blick in die Krankenhäuser. Mehr als 80 Prozent der Menschen, die dort auf den Intensivstationen liegen, sind nicht geimpft. Wir haben leider keinen hundertprozentigen Impfschutz, aber das sich das Virus auch bei Geimpften stärker verbreitet, liegt im Kern wiederum daran, dass die Viruslast insgesamt deutlich zu hoch ist. Also, die Tendenz der Aussage ist unbestreitbar richtig – die Minderheit der Ungeimpften erhöht das Infektionsrisiko auch bei der geimpften Mehrheit.

Die Situation in den Krankenhäusern ist momentan von Tag zu Tag besorgniserregender.
In Niedersachsen ist sie noch besser als in anderen Bundesländern, Niedersachsen ist ja kein Hotspot und Norddeutschland kommt insgesamt deutlich besser durch diese vierte Welle als viele andere Teile Deutschlands. Wir haben die Hotspots in Süd- und Ostdeutschland, dort ist das Gesundheitswesen bereits über dem Limit, die Kapazitäten sind erschöpft. Und die dort Beschäftigten sicher auch. Wir hatten ja bereits eine größere Zahl an Verlegungen aus diesen Hotspot-Regionen nach Niedersachsen. Auch das war mir eine Mahnung, es hier bei uns gar nicht erst so weit kommen zu lassen.

Kommen wir mal zu den Impfverweigerern und Corona-Leugnern. Es kursieren ja unfassbar viele Fake-News. Aber wenn man sich die Quellen dazu mal genauer anschaut, dann kommen diese News ursprünglich vor einer recht überschaubaren Zahl von Leuten. Sie werden dann inflationär geteilt und nachgeplappert, so verbreiten sich diese „News“ – und was folgt, ist eine Welle der Verunsicherung in den sozialen Medien. Braucht es an dieser Stelle jetzt auch mal einen Wellenbrecher? Muss stärker eingegriffen und kontrolliert werden? Und wie bekommt man die „Real-News“ in diese Kanäle?
Die Menschen sind ja im Netz sehr viel in ihren Blasen unterwegs und bekommen durch die Algorithmen dann auch noch Inhalte zugespielt, die zu dem passen, was sie ohnehin schon denken. Es ist also sehr schwer, jene zu erreichen, die anders denken. Und trotzdem müssen wir alle genau das versuchen, also widersprechen, uns einmischen, dagegen argumentieren, Fakten nennen. Und natürlich muss der Staat auch in den sozialen Medien klare Kante zeigen, indem strafrechtlich zum Beispiel Gewaltaufrufe verfolgt werden und indem auch dem Messengerdienst Telegram deutliche Grenzen gesetzt werden. Aber am Ende des Tages wird uns das bei der Impfquote auch nicht wirklich weiterhelfen. Wir werden sie nur steigern können durch sehr klare Regeln – 3-G am Arbeitsplatz war da zum Beispiel ein großer Schritt vorwärts. Auch die 2-G-Regeln sind gut und richtig. Denn ich habe tatsächlich die Hoffnung verloren, dass wir nur durch gutes Zureden und kluges Argumentieren alle Impfunwilligen überzeugen können.

Die Geduld ist verbraucht …
Ja. Wir haben uns viele Monate bemüht. Manche sagen, viel zu lange. Nun muss man ganz nüchtern feststellen, dass es nicht gelungen ist, auf diese Art und Weise die Impfquote deutlich zu erhöhen. Darum müssen wir es nun auch mit anderen Mitteln versuchen. Mir wäre es sehr viel lieber gewesen, wenn das nicht nötig wäre.

Müsste diese klare Kante noch sichtbarer sein? Viele wundern sich ja momentan sehr darüber, dass beispielsweise bei Demonstrationen oft so nachsichtig mit den Corona-Leugnern umgegangen wurde und wird, die da ohne Maske und Abstand unterwegs sind …
Es ist deutlich spürbar, dass einer Mehrheit der Gesellschaft zunehmend der Geduldsfaden reißt. Ich kann das auch verstehen. Wie gesagt, ich habe mich viele Monate bemüht, klug zu argumentieren, zuzuhören, zu kommunizieren. Aber der Blick auf die Impfquote lügt leider nicht. Die klare Kante bekommen wir nun mit der Impfpflicht und damit werden sicher auch eine Reihe von begleitenden Entscheidungen verbunden sein. Die große Mehrheit der Gesellschaft mag nicht mehr akzeptieren, dass ihre Sicherheit durch eine relativ kleine Minderheit gefährdet wird.

Karl Popper hat gesagt: „Gegenüber den Intoleranten kann man nicht Toleranz üben, sonst stirbt die Toleranz.“ Da ist was dran, oder?
Und Rosa Luxemburg hat gesagt: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte. Ich muss in einer Demokratie bereit sein, andere Meinungen zu akzeptieren. Dieser Grundsatz wird auch vom Grundgesetz ausgesprochen hochgehalten. Allerdings, wenn die Meinungsfreiheit am Ende des Tages dazu führt, dass sie auf Kosten Dritter geschieht, dann ist auch nach dem Grundgesetz eine Grenze erreicht. Wir reden ja nicht nur über die Gesundheit von Impfgegnern, die für sich in Anspruch nehmen, selbst darüber zu entscheiden, ob sie krank werden oder nicht. Da kann ich noch folgen. Aber das Infektionsrisiko für Dritte, das ist dann keine private Entscheidung mehr. An der Stelle ist definitiv eine Grenze erreicht.

Bei mir ist eine Grenze erreicht, wenn von einer Diktatur gesprochen wird, von einem Impfregime und dem Ende der Freiheit. Dann frage ich mich, was mit der Wahrnehmung solcher Leute nicht in Ordnung ist. Blicken die mal über den Tellerrand? Wissen die, was in anderen Ländern passiert?
Ich persönlich finde am schlimmsten, wenn sich etwa Querdenker mit Opfern des Nationalsozialismus auf eine Stufe stellen. Da hört es bei mir komplett auf. Wenn Impfgegner mit dem Judenstern herumlaufen, dann ist bei mir Feierabend. Was ist da passiert? Ich kann da nur spekulieren. Wir wissen, dass diese gesamte Szene der sogenannten Querdenker von den Rechten stark unterwandert ist, wir sehen auch eine deutliche Verbindung zwischen Stimmanteilen der AFD und einer niedrigen Impfquote. Und in Süddeutschland gibt es offenbar noch sehr viel stärker als bei uns eine Esoterik-Szene, die starke Bedenken gegen Impfungen hat. Darüber hinaus gibt es noch die unterschiedlichsten Schattierungen. Wir wissen zum Beispiel, dass bestimmte Ethnien ein Problem mit dem Impfen haben, weil es dort kulturell nicht dazugehört. Insofern ist diese Gruppe der Nichtgeimpften sehr heterogen. Sie lassen sich entsprechend auch nicht über nur einem Weg erreichen. Und ich befürchte, manche lassen sich eben gar nicht mehr erreichen – dazu zählen sicherlich diejenigen, die auf erschreckende Weise den Holocaust relativieren.

Im Grunde lässt es sich doch mit Immanuel Kant ganz gut auf den Punkt bringen. „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt.“ Daraus kann man recht klare Regeln ableiten.
Und das ist im Grunde auch der Kern dessen, was unser Grundgesetz ausdrücken will. Das Grundgesetz sichert den Staatsbürgerinnen und Staatsbürger große Freiheiten zu, solange nicht gegen die Rechte Dritter verstoßen wird, solange nicht gegen Gesetze verstoßen wird. Viele Impfgegner argumentieren jetzt, der Staat würde obrigkeitsstaatlich in ihr Leben eingreifen. In Wahrheit ist es so, dass der Staat entscheiden muss, wenn die Grundrechte der einen gegen die Grundrechte der anderen stehen. Beim Thema Impfen haben wir es dabei mit einer sehr großen Gruppe Geimpfter und einer viel kleineren Gruppe Ungeimpfter zu tun. Die kleine Gruppe hat wesentlich dazu beigetragen, dass leider derzeit auch Grundrechte der Geimpften wieder eingeschränkt werden müssen.

Nur waren die Geimpften in den vergangenen Monaten eher leise und die Ungeimpften dafür umso lauter …
Aber das ändert sich gerade. Wir haben eingangs darüber gesprochen, die Geduld mit den Impfgegnern ist bei vielen Menschen am Ende. Es ist ja beispielsweise nicht einzusehen, dass ich in meinem Arbeitsumfeld nicht weiß, ob alle geimpft sind. Das berührt die ganz persönliche Sicherheit. Ich denke, wir müssen nun sehr klar einen Weg gehen, der die Geimpften schützt und unterstützt – das hat für uns in Niedersachsen Priorität..
● Interview: Lars Kompa

 

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Randgruppenbeleidigung: Astrologiker*innen

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Randgruppenbeleidigung: Astrologiker*innen


Ich hätte es wissen müssen. Wenn einem schon beim Reinkommen der Geruch von Duftstäbchen und irgendeinem komischen Räuchersalbei entgegenschlägt, sollte man sich eigentlich gleich wieder auf der Türschwelle umdrehen und gehen. Definitiv die falsche WG-Party! Zu spät. Jetzt sitze ich hier auf einer dieser beschissen unbequemen Couches aus Paletten, meine Augen tränen von dem Räucherscheiß und ich bekomme von irgendeiner Astrologie-Ollen, die ich noch nie im Leben getroffen hab, meine Persönlichkeit erklärt. Toll! Hätte ich ihr bloß nicht verraten, an welchem Tag und zu welcher Stunde ich geboren wurde. Ganz großer Fehler. Anscheinend ist es egal, dass wir uns erst seit fünf Minuten kennen, der Winkel des Mondes bei meiner Geburt verrät ihr alles, was sie über mich wissen muss. Sie kommt sofort richtig in Fahrt:
„Du hast nicht so viele Freunde, oder? Das liegt daran, dass dein Mond im Widder ist. Die sind eher Einzelgänger. Widder-Monde fühlen sich immer so schnell angegriffen und sind manchmal auch echt selbstsüchtig. Und dann noch Sternzeichen Zwilling! Ich muss sagen, das ist schon ‘ne schwierige Kombi, damit kommt nicht jeder klar. Ich meine, nichts gegen dich, aber Zwillinge haben immer zwei Gesichter, da muss man echt aufpassen. Man weiß nie, woran man ist. Ich date auch grundsätzlich keine Zwillinge mehr. Mit denen bin ich durch. Hab schlechte Erfahrungen gemacht. Echt ein No-Go bei mir.“
Komisch. Nach dieser definitiv faktenbasierten Analyse meiner offensichtlich sehr fragwürdigen Persönlichkeit wundert es mich, dass ich beim Reinkommen nicht gleich in Flammen aufgegangen bin. Immerhin sollte ihre bekackte Gewürzmischung, mit der sie hier das Zimmer vernebelt, doch die negativen Energien aus ihrer Wohnung vertreiben. Hat nicht funktioniert. Ich bin (leider) immer noch da. Und sie schaltet einen Gang höher und verkündet mit weit aufgerissenen Augen: „Übrigens, diesen Monat wird’s schwierig mit deinem Sexleben. Das liegt am Merkur, der durchwandert gerade den Skorpion und trifft dann am 13. noch auf den Saturn, das bringt negative Energien. Wird ‘ne schwierige Phase für dich. Aber versuch es doch mal mit Rosenquarz. Das mach ich auch immer. Einfach den Kristall einen Tag in die Sonne legen, so nimmt er die Lichtenergie auf, und dann abends legst du den so eine Stunde auf die Stirn. Ich leg mich meistens auf den Boden und meditiere dabei, so bringst du Körper und Seele wieder ins Gleichgewicht.“
Vielleicht sollte ich das tatsächlich mal ausprobieren, wenn ich (endlich) wieder zu Hause bin. Ich habe nämlich das Gefühl, dass meine Seele meinen Körper verlassen hat. Irgendwann zwischen der Berechnung meines Aszendenten und der Erklärung, wie genau ich Steine mit Sonnenlicht auflade, muss es passiert sein. Aber okay, vielleicht bin ich ja auch einfach zu voreingenommen. Beim nächsten Vollmond stelle ich mich mit einer Kristallkugel in den Garten und führe einen Tanz auf, um meine spirituellen Geister zu erwecken. Klappt bestimmt. Und wenn ich dann noch herausfinde, an welchem Stein ich zu welchem Tageszeitpunkt und Standpunkt zur Erdachse im Uhrzeigersinn lecken soll, dann kann in meinem Leben wirklich gar nichts mehr schiefgehen.
„Ist alles okay? Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber du wirkst irgendwie ein bisschen genervt. Rede ich zu viel? Sorry, das liegt daran, dass mein Sternzeichen Löwe ist, die wollen immer im Mittelpunkt stehen und so. Mit dieser Energie kann nicht jeder umgehen. Feuerzeichen halt, wir haben ‘ne starke Persönlichkeit.“
Und ich weiß nicht, ob das Folgende nun wirklich passiert oder ob ich von all dem Schwachsinn und Nebel anfange zu halluzinieren. Jedenfalls hat sie plötzlich eine Wünschelrute oder einen Zauberstab aus Einhorn-Horn oder was auch immer in der Hand, womit sie wie wild in meine Richtung gestikuliert, während sie mich irre anstarrt. Und täusche ich mich, oder kommt da Rauch aus ihren Ohren? Ihre Augen glühen lila-rot. Höchste Zeit, zu gehen!
„Ah, Sternzeichen Löwe, das erklärt natürlich einiges. Dann kannst du ja gar nichts dafür, dass du so viel Scheiße laberst. Da kann man halt nichts machen. Nicht jeder kommt mit ‘nem Feuerzeichen klar. Oder bis du vielleicht einfach so ein Arschloch, das sich die eigene Persönlichkeit auf irgendwelchen Astrologie-Apps zusammenstellt? Um bloß keine Verantwortung für den eigenen Scheiß-Charakter übernehmen zu müssen. Aber – was für ein Glück – wir Widder-Monde brauchen ja nicht so viele Freunde. Ich bin dann mal weg!“                                       ● Jona Daum

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Über Flucht – Ein Gespräch mit Michael B.

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Über Flucht – Ein Gespräch mit Michael B.


Foto: Jona DaumMichael heißt eigentlich nicht Michael, er hat seinen Namen geändert, weil sein alter Name ihn an die Zeit in Syrien und an seine Flucht erinnert. Er möchte diesen Abschnitt seines Lebens am liebsten komplett vergessen. Trotzdem trifft er sich mit mir, um noch einmal über seine Vergangenheit zu sprechen. Aber auch über seine Zukunft in Deutschland. Mit lachenden Augen …

Gehen wir zurück an den Ausgangspunkt. Du kommst aus Syrien. Wo hast du dort gelebt?
Ich habe in Aleppo gelebt, zusammen mit meiner Familie. Wir waren insgesamt acht Geschwister, ich bin der jüngste. Meine Geschwister haben dann alle geheiratet und ich habe mit meinen Eltern eine Zeit lang allein gelebt. Bis ich mit 17 Jahren in den Libanon gegangen bin.

Warum bist du weg von zu Hause?
Ich bin homosexuell, und in Syrien ist das sehr schwer. Das ist in der Gesellschaft geächtet. Es gibt sehr viel Druck. Und es war auch schwer mit meinen Eltern. Es war ein Versteckspiel. Ich hatte die Hoffnung, dass es im Libanon ein bisschen freier sein könnte. Ich habe ein paar Jahre probiert, dort zu leben. Aber so richtig gut und frei war es im Libanon natürlich auch nicht. Und ich bin dann irgendwann zurück zu meinen Eltern. In Aleppo war es aber wieder eine richtige Katastrophe. So viel Zwang. Du musst deine Haare schneiden, du musst beten, du musst, du musst, du musst. Und ich habe schon als Kind meine Schwierigkeiten mit solchen Zwängen gehabt. Ich wollte immer, dass man mich in Ruhe lässt. Ich bin dann schließlich in Syrien nach Tartus, ebenfalls eine größere Stadt, und habe dort eine Weile mit Freunden gelebt. Aber dann kam der Krieg und ich bin zurück zu meinen Eltern, beziehungsweise zurück zu meiner Mutter, denn mein Vater war damals schon gestorben. Nicht im Krieg, sondern vor dem Krieg. Meine Mutter hat mich einfach gebraucht. Sie ist schon alt. Sie lebt noch heute in Aleppo.

Wie alt bist du?
Ich bin jetzt 35 Jahre alt.

Leben deine Geschwister auch noch in Aleppo?
Sie leben überall sehr zerstreut. Zwei Brüder leben heute mit ihren Familien in der Türkei, aber wir haben keinen Kontakt. Sie wissen nicht, dass ich homosexuell bin und würden das strikt ablehnen. Ein Bruder, mit dem ich sehr eng war, ist in Syrien verschwunden. Seine Frau wohnt mit den Kindern in der Wohnung über meiner Mutter.

Und du weißt nicht, was aus deinem Bruder geworden ist?
Assad hat ihn geholt. Und wir wissen gar nichts. Er war nur für einen kurzen Weg auf der Straße und ist dann einfach verschwunden. Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass er tot ist.

Du wünscht dir, dass er tot ist?
Ja, sehr. Wenn er lebt und in Assads Gefängnissen sitzt, ist das für ihn die Hölle. Darum wünsche ich mir, dass er tot ist, dass er Frieden hat. Keine Folter, keine Schläge – wenn er tot ist, ist das besser für ihn.

Wie war damals vor deiner Flucht die Situation in Syrien?
Es war schlimm. Es konnte dir jederzeit passieren, dass du auf der Straße von der Polizei aufgegriffen wurdest. Völlig grundlos. Man wurde dann geschlagen, ging für zwei, drei Tage ins Gefängnis. Es war völlig unmöglich, sich mit Freunden zu treffen. Viel zu gefährlich. Keine treffen in Cafés oder in Klubs. Man war möglichst wenig auf der Straße. Wir haben uns viel versteckt. Man versucht, möglichst unsichtbar zu sein.

Ich merke, dass es dir schwerfällt, über diese Zeit zu sprechen. Dich verfolgen die Erinnerungen, die Bilder …
Vor allem im Schlaf. Mein Mann fragt mich immer, gegen wen ich im Schlaf kämpfe. Ich habe keine Antwort, ich weiß nicht genau, was in meinen Träumen passiert. Vor einem Jahr hat mal eine Frau zu mir gesagt, dass ich mich um meine Traumata kümmern müsse. Aber ich kann auf Deutsch nicht wirklich gut darüber sprechen. Und ich möchte das alles auch lieber einfach vergessen. Sich zu erinnern, das ist schwer. Ich habe dann Depressionen. In der Schule hat ein Lehrer mal das Thema aufgemacht. Da musste ich weinen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen. Und einem Kollegen ging es genauso. Ich habe so viel geweint. Und ich mag es überhaupt nicht, zu weinen. Wie ich in den letzten zwei, drei Jahren in Syrien gelebt habe, das kann sich niemand vorstellen. Was ich gesehen habe, das kann sich niemand vorstellen. Eine einzige Katastrophe. Auf der Straße, Köpfe ab.  Ich habe das alles gesehen. Und ständig Angst, ganz viel Angst. Dass du etwas falsch machst, dass sie dich erwischen. Ich habe mich zwei, drei Monate in der Wohnung versteckt, ich habe mich nicht auf die Straße getraut. Meine Mutter hat für uns eingekauft. Und wenn die anderen dich erwischen, die gegen Assad, dann zwingen sie dich mitzukämpfen. Ich hatte wirklich so viel Angst. Ich möchte das alles jetzt vergessen. Aber es ist nicht so einfach, das zu vergessen. Ich sage zu mir jeden Tag, dass ich das endlich vergessen muss. Aber ich habe das alles erlebt. Und dann mein Bruder. Er hat nichts gemacht. Er war wie eine Maus. Er war so ein friedlicher Mensch. Warum er? Warum nicht ich? Er hat zwei Kinder. Warum haben sie ihn den Kindern weggenommen? Die Polizei hat ihn erwischt. Und wir wissen nichts. Gar nichts.

In Syrien sind sehr viele Menschen verschwunden.
Ja, und du kannst nichts machen. Du kannst dir keinen Anwalt nehmen, du kannst nicht zur Polizei gehen. Es gibt überhaupt keine Chance, etwas zu tun. Man ist völlig machtlos. Das ist ein ganz schreckliches Gefühl.

Wie ist die Lage heute in Syrien?
Ich höre nur ein bisschen was von meiner Mutter, aber ich verfolge nicht die Nachrichten. Die Politik in Syrien interessiert mich nicht mehr. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Nicht mit der Politik, nicht mit der Religion. Das ist Vergangenheit für mich.

Du versucht also einen Schlussstrich zu ziehen.
Ja.
Was aber nicht so ganz geht, weil deine Mutter nach wie vor in Aleppo ist.
Ja, sie ist noch in Aleppo, mit meiner Schwägerin. Und das macht mich zwischendurch immer wieder sehr traurig. Ich mache mir jeden Tag Sorgen.

Hörst du viel, hast du regelmäßig Kontakt?
Ja.

Wollen deine Mutter und deine Schwägerin mit den Kindern auch raus aus Aleppo, raus aus Syrien?
Wenn ich könnte, würde ich sie alle rausholen. Aber meine Mutter kann nicht einfach so kommen. Ich bin 35, ich bin zu alt. Ich müsste für alles bezahlen. Vielleicht kann ich das, wenn ich arbeite. Ich mache mir vor allem Sorgen um die Kinder meines Bruders.

Wie ist die Versorgungslage dort? Haben sie genug zu essen? Wie muss man es sich dort gerade vorstellen?
Ohne Hilfe geht es nicht. Sie brauchen Hilfe. Es gibt dort ja jetzt so etwas wie das Rote Kreuz. Jetzt gibt es das. Lange gab es das nicht. Meine Mutter und auch meine Schwägerin mit den Kindern, sie können nur leben, wenn wir Geld schicken. Meine Brüder aus der Türkei. Ich. Ohne Geld hat sie nichts zu essen. Es ist wirklich schlimm. Ganz schlimm. Ich kann jetzt nicht mehr so gut darüber sprechen.

Hast du noch so etwas wie Heimatgefühle für Syrien? Verbindest du noch etwas Positives mit deinem Geburtsland?
Früher ja, heute nicht mehr. Ich bin jetzt seit sechs Jahren in Deutschland und seit etwa fünf Jahren habe ich damit abgeschlossen. Syrien ist nicht mehr meine Heimat. Deutschland ist jetzt meine Heimat. Es ist nichts Positives übrig. Da sind die Bilder von den Toten auf der Straße, von den Köpfen. Das ist nicht mehr mein Land. Das war eine schlimme Zeit. Andere haben vielleicht noch diese Gefühle. Aber bei mir kommt noch meine Homosexualität dazu und die damit verbundene Angst und Unfreiheit.

Wird Homosexualität streng verfolgt in Syrien, kommt man dafür ins Gefängnis?
Das ist dort alles eine einzige Katastrophe. Zuerst kümmert sich aber die Familie. Sie setzen dich unter Druck, sie beten mit dir, sie wollen dich verheiraten. Wenn die Familie nichts tut, dann kümmert sich die Politik, dann kümmert sich Assad. Inzwischen wissen meine Schwestern, dass ich homosexuell bin und sogar, dass ich hier in Deutschland mit einem Mann verheiratet bin. Der weibliche Teil der Familie, meine Schwestern, die Cousinen, die wissen es alle. Und sie gehen ganz normal damit um, so wie die meisten Menschen hier im Westen. Aber die Brüder, die Cousins, die Neffen, sie wissen es alle nicht. Und ich werde es ihnen auch nicht sagen. Ich halte bewusst Abstand. Denn sie würden mir sicher zusetzen. Das will ich nicht. Ich will meine Ruhe und ich will mein Leben leben.

Hast du nicht Angst, dass sie es mit diesem Interview jetzt erfahren?
Wenn sie es jetzt erfahren, dann ist mir das im Grunde egal. Denn ich bin hier. Ich bin aus meiner Familie der Einzige, der in Deutschland ist. Was sollen sie machen aus der Ferne? In Syrien wäre das natürlich ganz anders.

Was hätte dir gedroht in Syrien?
Ich wäre jetzt tot. Ganz sicher. In Syrien musst du als Mann irgendwann verheiratet sein. Das wird einfach verlangt, das fordert die Gesellschaft von dir. Das ist ein Muss. Das hätte ich nicht gekonnt. Aber sie verlangen es. Du musst. Meine Mutter hat immer gefragt, warum ich noch nicht verheiratet bin. Ich habe ihr jetzt gesagt, dass ich verheiratet bin. Aber sie denkt, dass ich mit einer Frau verheiratet bin. Meine Schwestern amüsieren sich darüber. Aber sie sagen, dass ich das gut gemacht habe. Dass ich es nicht erzählen muss. Weil ich Ruhe brauche. Und sie wollten Bilder von meiner Hochzeit (lacht). In Syrien wäre ich jetzt sehr wahrscheinlich tot oder im Gefängnis. Wenn sich deine Familie nicht kümmert, dann kümmert sich Assad. Oder die anderen. Ich wollte da einfach nur schnell weg. Ich musste weg. Ich hatte die Wahl, zu sterben oder zu flüchten. Gott sei Dank bin ich jetzt hier in Deutschland.

Was war dein Beruf in Syrien. Hast du eine Ausbildung gemacht?
Nein, ich habe bei einer Firma im Bus-Ticket-Verkauf und der Kundebetreuung gearbeitet. Mein Vater hatte einen Obst- und Gemüsehandel, und sein Plan war immer, dass einer meiner Brüder oder ich oder wir zusammen sein Geschäft übernehmen. Aber das war überhaupt nicht meine Welt. Diese Geschäftswelt war so „männlich“. Du musst deinen Mann stehen. Sehr viel Klischee. Das ist eine sehr eigene und mir sehr fremde Welt. Das wäre für mich einfach nicht gegangen. Im Ticket-Verkauf war ich weitaus besser aufgehoben.

Sprechen wir mal über deine Flucht? Wann hast du Syrien verlassen?
Das war 2015.

Hast du das lange geplant?
Nein, das war eher spontan, nachdem ich viele Jahre Angst hatte. Irgendwann war einfach ein Punkt erreicht und ich habe gesagt: Ich kann nicht in Syrien bleiben. Da kam bei mir ja ein bisschen was zusammen. Meine Sexualität. Die Religion. Der Zwang. Der Krieg. Und dann habe ich mit jemandem gesprochen, der solche Reisen organisiert hat. Ich wollte in die Türkei, weil ich gehört hatte, dass man von da aus weiter nach Europa kommt. Ich habe bezahlt. Und dann war ich irgendwann in der Türkei. Dort zuerst auf der Straße, zwei Tage. Aber ich wollte schnell weiter, nach Griechenland.

Mit dem Boot?
Ja, wir haben es mit einem Boot versucht. Aber das ist gekentert. Das war grausam. Die türkische Polizei hat uns rausgeholt. Ich habe noch heute meine Probleme damit. Wasser ist schwierig. Schwimmen gehen ist unmöglich. Ich war danach noch ein ganzes Jahr in der Türkei. Aber dann habe ich neuen Mut gefasst. Ich wollte weiter. Unbedingt. Nach Europa. Deutschland war gar nicht so sehr im Fokus. Einfach Europa. Und ich bin wieder in ein Boot nach Griechenland gestiegen. Diesmal mit Erfolg. Ich hatte die ganze Zeit panische Angst. Es war schrecklich. Aber ich habe es geschafft. Und in Griechenland habe ich dann nach 14 Tagen zwei Leute kennengelernt. Ich kam ja allein nicht weiter. Ich hatte natürlich Schwierigkeiten, wegen der Sprache. Ich kann kein Englisch. Ich habe bezahlt. Und dann ging es zuerst von Griechenland nach Makedonien bis zur Grenze nach Serbien. Das war dann eine Katastrophe. Eine schlimme Zeit. Es hat geregnet, es war kalt, wir waren draußen. Ich bin von dort mit einem Auto weiter. Die standen dort bereit an einer Tankstelle, so ähnlich wie Taxis. Ich habe viel bezahlt aber ich wollte unbedingt dort weg. So bin ich nach Österreich gekommen. Und in Österreich habe ich mich dann entscheiden müssen zwischen Holland und Deutschland. Das war eine wirklich harte und schlimme Zeit. Ich hatte nur ein T-Shirt und Shorts. Ich habe dann immer so eine Tüte über mich gezogen als Regenschutz. Da waren viele so wie ich. Schrecklich. Schließlich bin ich dann erst mit dem Bus und dann mit der Bahn nach Deutschland. Und die erste Station in Deutschland war Frankfurt.

Wann war das?
Am 15. September 2015.  Das Rote Kreuz hat geholfen, wir wurden in einer Turnhalle untergebracht. Wir wurden untersucht. Das war alles gut. Ich war sehr dankbar. Aber ich wollte nicht in dieser Turnhalle bleiben. Ich wollte weiter nach Bremen. Und bin dann von Bremen nach Oldenburg, und von Oldenburg nach Bramsche bei Osnabrück. Dort war ich drei Monate.

Warum bist du dort jeweils hin?
Weil ich gehört hatte, dass es dort besser ist. Ich habe gemacht, was die Leute mir gesagt haben. Und ich brauchte auch Papiere. Ich hatte große Angst, dass ich zurückgeschickt werde. Das ist so eine Angst, die man sich gar nicht vorstellen kann. Von Bramsche ging es dann noch weiter nach Wittingen. Das war schwierig. Ich war dort untergebracht mit sechs anderen Männern in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie haben gebetet. Ich habe nicht gebetet. Da gab es einen Mann, der sich dort um Flüchtlinge gekümmert hat und der hat mir geholfen. Ich bin nach Wolfenbüttel in eine andere Wohnung umgezogen. Und dann war meine Sache endlich vor Gericht und ich habe meine Papiere bekommen. Ich durfte lernen. Ich konnte auf eine Schule. So bin ich schließlich nach Hannover gekommen.

Ein Odyssee …
Ja. Und es war nicht schön die erste Zeit. Ich hatte Angst. Ich habe die Sprache nicht verstanden. Die Leute waren mir gegenüber distanziert. Sie haben mich irgendwie als Bedrohung empfunden. Ein Flüchtling – besser Abstand halten. Der könnte gefährlich sein. Dabei bin ich sehr, sehr friedlich. Ich würde niemals irgendjemandem etwas tun. Ich möchte nur freundlich „Hallo!“ sagen. Aber dann habe ich schließlich meinen Mann kennengelernt, im Sommer 2018. Das war gut. Und hier in dieser Wohnung leben wir jetzt zusammen seit August 2020. Ich mache momentan eine Weiterbildung im Bereich Betreuung bei einem tollen Unternehmen. Das macht mir sehr großen Spaß. Es hat sich sehr viel zum Guten gewendet. Mir haben viele Leute in Deutschland sehr geholfen. Und das Land hat mir eine Chance gegeben. Jetzt kann ich etwas zurückgeben. Ich möchte jetzt auch Menschen helfen. Als ich nach Deutschland gekommen bin, wollte ich zuerst eine ganze Weile Friseur werden (lacht). Das war so ein Plan. Aber ich konnte ja die erste Zeit nicht arbeiten, weil meine Papiere fehlten. Ich musste lange warten. Das war nicht schön. Ich wollte unbedingt arbeiten. Und dann ist der Gedanke entstanden, dass ich direkt etwas für die Menschen tun möchte, dass ich direkt helfen möchte. In diesem Bereich herrscht Mangel, da kann ich wirklich einen Beitrag leisten. Und das mache ich jetzt. Ich bin damit sehr zufrieden.

Du machst auch einen sehr zufriedenen Eindruck, wenn du davon erzählst.
Weil ich mich hier frei entscheiden kann. Und mich auch für diese Arbeit frei entschieden habe. In Syrien ist alles Zwang. Du musst, du musst, du musst. Das war für mich immer ganz schwierig. Hier in Deutschland muss ich nicht, hier kann ich. Ich sage heute zu meiner Familie, dass ich Deutscher bin. Ich sehe mich nicht mehr als Syrer. Und ich habe auch kaum Kontakte in der Richtung. Das gäbe auch nur Theater wegen meiner Sexualität.

Deine Sexualität war auch während deiner Flucht immer wieder ein Problem, hast du eben angedeutet. Zum Beispiel in der Wohngemeinschaft mit den sechs Männern.
Das war natürlich die ganze Zeit so ein Versteckspiel. Ich hatte wirklich Angst. Und als dieser Mann dann für mich eine andere Wohnung gefunden hat, war die Sache natürlich zuletzt irgendwann klar. In der neuen Wohnung habe ich dann auch nicht allein gelebt, sondern mit zwei Männern. Aber in getrennten Zimmern. Mit denen haben wir vorher gesprochen, der Mann hat mit ihnen gesprochen, ihnen die Situation erklärt und sie gebeten, das zu akzeptieren. Die beiden haben es natürlich nicht akzeptiert. Sie wollten mich ändern. Sie wollten immer mit mir beten. Darum gab es bald den nächsten Umzug. Ich hatte wegen meiner Sexualität in den ersten Jahren in Deutschland sehr viel Angst, weil immer viele Landsleute in meiner Nähe waren, viele Muslime. Ich bin homosexuell und nicht religiös. Das ist für viele in der Community überhaupt nicht zu verstehen. Und auch nicht akzeptabel. Und wenn es herauskommt, spricht es sich in dieser Gemeinschaft natürlich auch ganz schnell herum. Dann wird viel geredet und getuschelt. Und es kann eben auch gefährlich werden. Dabei gibt es auch in Syrien viele Männer, die eigentlich Männer mögen. Sie müssen es dort natürlich verstecken, viele Männer sind darum auch verheiratet mit Frauen und leben so eine Art Doppelleben. Und das bleibt oft auch in Deutschland so. Sie verheimlichen es in der Gemeinschaft, weil sie Angst haben. Und tatsächlich auch Angst haben müssen. In Deutschland sind große Teile der Gesellschaft bei dem Thema wesentlich aufgeschlossener. Da ist es dann gar kein Problem.

Du hast öfter gesagt, dass du nicht betest. Glaubst du nicht mehr?
Ich kann das gar nicht so genau sagen. In Syrien war der Glaube immer verbunden mit Zwang. Religion war eine Pflicht. Ich musste, musste, musste. Damit bin ich aufgewachsen. Hier bin ich nun frei und muss nicht. Darum bete ich nicht. Ob ich irgendwann wieder glauben will oder kann, das weiß ich im Augenblick noch nicht. Im Moment verspüre ich einen großen Widerwillen bei dem Thema, weil es mich an all die Zwänge erinnert. In Syrien gab es einfach diesen Druck. Als Kind musste ich. Es gab immer viel Zwang, viel Angst. Immer mehr Angst. Die Aussicht, das alles hinter mir zu lassen, das hat mich sehr motiviert. Das war der Ausgangspunkt meiner Flucht. Mir war klar, dass es hart werden würde. Aber ich war bereit, dafür zu kämpfen. Und es war ein Kampf. Mein Leben in Syrien war zuletzt ein Kampf, die gesamte Flucht war ein Kampf. Ich habe sehr viel gekämpft in meinem Leben. Ich habe sehr viel für dieses Leben gekämpft, das ich jetzt habe. Ich war in Syrien einfach irgendwann an einem Punkt, an dem klar war, dass ich etwas ändern musste. Und die Hoffnung, dass ich es an einen Ort schaffe, an dem ich meine Ruhe habe, an dem ich einfach so leben kann, wie ich das möchte, das war meine Motivation. Ich habe das geschafft. Und dann habe ich noch meinen Mann kennengelernt. Wir haben geheiratet. Das gab natürlich auch wieder Gerede. Es gab die Unterstellung, ich würde ihn heiraten wegen der Papiere. Aber ich hatte ja längst meine Papiere. Und auch schon mein eigenes Geld. Wir haben aus Liebe geheiratet. Es gab keinen anderen Grund.

Hast du während deiner Flucht auch Menschen kennengelernt, die einfach so geholfen haben.
Erst in Deutschland. Vorher war das immer mit Geld verbunden. Ohne Geld gab es keine Hilfe. Und ich war sehr auf Hilfe angewiesen. Ich brauchte zum Beispiel die Übersetzung. Ich habe für alles bezahlt. Ich habe alle Fahrten bezahlt. Ich wollte weiter, also habe ich bezahlt. In Wittingen, in dieser Gemeinschaft mit den sechs Männern, haben sie mir dann auch noch mein Geld geklaut. Ich habe mit diesen Leuten dort drei Monate gelebt, wir haben zusammen gegessen – und dann hat einer von denen mein Geld genommen. Und du weißt, einer war es. Aber natürlich hat es niemand zugegeben. Ich habe sehr viel Vertrauen verloren. Ich vertraue heute eigentlich niemandem. Außer meinem Mann. Wenn ich auf der Straße unterwegs bin und jemand hinter mir geht, dann habe ich Angst. Ich habe Angst, dass mich jemand schlägt. Dass jemand hinter meinem Rücken irgendwas macht.

Du bist sehr viel geschlagen worden in deinem Leben …
Ja. Sehr viel. In Syrien, das war schrecklich. Und ich brauche da noch Zeit. Aber nun bin ich hier in Deutschland. Ein neues Leben. Und ich möchte jetzt gerne zeigen, was ich kann. Dass ich etwas beitragen kann. Viele Menschen denken, dass die Flüchtlinge nur kommen, weil sie Geld wollen. Ich möchte einfach weiterleben. Ich will arbeiten. Ich will lernen. Ich möchte Leute kennenlernen. Ich möchte ein Teil dieser Gesellschaft sein und meine Vergangenheit möglichst vergessen. Ich habe darum auch meinen Namen geändert. Machmud war mein Name. Jetzt heiße ich Michael. Und ich habe dazu den Nachnamen meines Mannes angenommen. Das war eine gute Entscheidung. Mit dem Namen Machmud war ich immer gleich in einer Schublade. Du bist Muslim. Und damit verbunden sind natürlich sehr viele festgefügte Vorstellungen. Die aber alle rein gar nicht für mich passen. Das betrifft zum Beispiel auch meine Homosexualität.

Wie war das in deiner Kindheit in Syrien, wann hast du gemerkt, dass du homosexuell bist?
Ich denke, ich muss 14 Jahre gewesen sein. Das war alles sehr schwer. Und sehr gefährlich. Darum habe ich mir schon als Kind immer gewünscht, woanders zu Leben. Irgendwo in Freiheit. Ich habe dabei früher nie an Europa gedacht. Eher an Kuwait oder Dubai. Ich habe erst später realisiert, dass es dort auch nicht viel besser gewesen wäre. Homosexualität ist in dieser Kultur überall ein Problem. Darum habe ich irgendwann von Europa geträumt. Nicht von Deutschland. Ich wusste ja nichts über Deutschland. In Makedonien hat mich die Polizei gefragt, wohin ich will. Und ich habe geantwortet: Europa!

Es ist wirklich schwer, sich das vorzustellen: Aus einem Land zu flüchten, sich einfach auf den Weg zu machen, ohne ein konkretes Ziel.
Ja. Und nein, denn ich wollte in erster Linie einfach weit weg. Ich wollte raus, ich war ungeduldig. Hauptsache raus. Das alles zurücklassen, das alles vergessen. Wenn das Thema Vergangenheit kommt, wenn es weh tut, ich daran denken muss, dann erinnere ich mich immer ganz schnell daran, wo ich jetzt bin, dass ich es geschafft habe.

Hast du auf deiner Flucht eigentlich auch Gewalt erlebt? Davon hört man ja momentan sehr viel.
Nein, damals nicht. Aber die Umstände waren oft schlimm. Vor allem in Serbien. Das war eine Katastrophe. Es war so kalt, es hat so viel geregnet, es war schrecklich. Und es waren so viele Kinder unterwegs. Wir Erwachsenen haben natürlich versucht, ihnen zu helfen. Und es gab auch andere Hilfe, aber nicht genug Hilfe. Die Erinnerung tut weh. Ich möchte nicht weinen. Als ich in Deutschland angekommen bin, war ich so müde und kaputt. Du kannst dir das nicht vorstellen.

Viele Flüchtlinge hoffen ja darauf, dass sich die Verhältnisse in ihrer Heimat irgendwann ändern und sie zurückkehren können. Für dich ist das gar keine Option …
Nein, meine Heimat ist hier. Auch wenn es in Syrien wieder Frieden gäbe, dann wäre da immer noch das Problem mit meiner Sexualität. In Syrien wäre das ein massives Problem. Schon ein Besuch wäre problematisch. Ich hätte Angst. Eine Rückkehr ist für mich unvorstellbar. Das wäre eine Katastrophe. Nein, meine Heimat ist jetzt Deutschland. Hier habe ich meine Ruhe und meinen Frieden. Das ist gut. Das gefällt mir. Hier erlebe ich Verständnis. Ich kann hier mit dir sitzen und über meine Homosexualität reden und für dich ist das völlig normal und gar kein Problem. Verstehst du? Das wäre in Syrien nicht vorstellbar. Nein, ich gehe niemals zurück. Wohin soll ich zurück? Ich habe mitbekommen, dass Flüchtlinge zurückgekehrt sind, die zum Beispiel aus dem Irak geflohen waren. Aber nach Syrien kehrt momentan niemand zurück. In Syrien herrscht nach wie vor Krieg.

Hier in Deutschland gibt es ja inzwischen auch sehr viel Hass auf Flüchtlinge.
Ja, aber in meinem Alltag erlebe ich das kaum. Es gibt da fast keine Berührungspunkte. Und in Deutschland gibt es dazu eine Polizei. Eine richtige Polizei, nicht so wie in Syrien. Eine Polizei, die aufpasst, die sich kümmert. In Syrien schlagen sie dich, sie sperren dich ein, sie wollen Geld, du kannst einfach verschwinden, sie töten dich. Hier in Deutschland kann ich dagegen bei Problemen die Polizei rufen. Ich habe nicht so viel Angst vor den Rechten, ich habe mehr Angst vor der muslimischen Community wegen meiner Homosexualität. Ich würde mal sagen, dass so etwa 20 Prozent das entspannt sehen, aber 80 Prozent eben nicht. Ich halte mich darum lieber fern. Obwohl sie ja eigentlich nichts machen können. Wir sind in Deutschland, es gibt Regeln und Gesetze, es gibt bei der Religion keinen Zwang. Und es gibt insgesamt eine große Offenheit. Als wir geheiratet haben, waren wir in den Herrenhäuser Gärten und haben Fotos gemacht. Wir hatten keine große Feier wegen Corona. Aber in den Herrenhäuser Gärten haben dann viele Leute gratuliert und waren sehr zugewandt. Das war so ein schöner Tag!

Verfolgst du in den Nachrichten die Berichte über die Flüchtlinge, die jetzt kommen?
Ich verfolge das natürlich, aber das ist auch sehr schwer für mich. Ich muss dann immer an die Kinder denken, die mir während meiner Flucht begegnet sind. Ich muss an die Babys denken. Ich habe sehr viel Schreckliches gesehen und diese Bilder kehren dann zurück. Ich möchte da jetzt nicht weiterreden. Es gab viele schlimme Situation. Ich hoffe, dass die Kinder es bis nach Deutschland schaffen. Sie können doch nichts dafür. Sie haben sich das nicht ausgesucht. Niemand flüchtet freiwillig. Niemand will das. Ich wünsche mir auch für die Kinder meiner Nichte, dass sie es irgendwann nach Europa schaffen. In Syrien haben sie keine Perspektive, keine Chance. Hier in Deutschland hätten sie eine Chance. Dafür habe ich sogar mal gebetet.

Wie geht es jetzt für dich weiter mit deiner Ausbildung?
Ich bin im kommenden Jahr fertig und dann kann ich endlich richtig arbeiten. Die Weiterbildung dauert eineinhalb Jahre. Ich hoffe, dass ich das alles schaffe, Ich bin momentan sehr konzentriert auf diese Ausbildung. Und ich lerne weiter Deutsch. Ich habe ja erst vor drei Jahren damit angefangen. Das war am Anfang vor allem schwer, weil ich niemanden kannte. Ich habe nur wenig mit Leuten sprechen können. Darum habe ich mich bemüht, Leute kennenzulernen. Inzwischen ist es besser. Zwischendurch habe ich noch überlegt, ob ich den Führerschein machen soll, aber ich habe mich dann dagegen entschieden.

Warum?
Du wirst lachen. Ich denke an die Welt. Wir müssen etwas tun. Es gibt schon viel zu viele Autos.  Außerdem hat mein Mann einen Führerschein, das reicht doch. Es gibt den Bus und die Bahn, ich habe ein Fahrrad. Das funktioniert auch ohne Auto.

Ich danke dir sehr für deine Zeit und für dieses Gespräch. Ich hoffe, ich habe nicht zu viel aufgerührt damit.
Es ist okay. Ich muss mich ja damit auseinandersetzen. Und es wird auch jeden Tag besser. Die Hauptsache ist, dass ich jetzt hier bin. Das ist ein großes Glück.
● LAK

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Tonträger im Januar

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Tonträger im Januar


Messina: Sponsored Post
Die junge Band aus dem schweizerischen Winterthur hat sich um die Vermarktung ihres Debüts scheinbar ebenso viele Gedanken gemacht wie über ihren Sound. Sie erfanden zu jedem Song eine Marke und ein Produkt, Überthema: Motorsport. Wer sich davon nicht ablenken lässt, entdeckt moderne, vielschichtige elektronische Popsongs, die alles haben, was ein guter Popsong braucht.

 

 

 

 

U.T.A.: No More No Less
Wenn sich Musiker:innen nur mit Gitarre auf die Bühne stellen, ist es gut, wenn da ein bisschen mehr schwingt, als „nur“ eine schöne Stimme. Bei der Dortmunder Blues- und Folksängerin schwingt viel mehr: raue Untertöne ebenso wie ganz zart hingetupfte. Sie maunzt und flüstert und setzt ihre (wunderschöne) Stimme so gekonnt ein, dass es viel mehr als ein Fingerschnippen dazu gar nicht braucht.

 

 

 

 

Bosudong Cooler: Sand
Indie-Folk-Rock und Americana aus Busan: Bosudong Cooler, die beim diesjährigen Reeperbahn Festival zu Gast waren, beweisen, dass Südkorea auch anderes als K-Pop-Boybands wie BTS hervorbringt. Nach ihrer EP „Yeah, I don‘t want it“ von 2019 ein Debütalbum mit der neuen Frontfrau Kim Min-ji, perlender Gitarre und einem samtig-leichten, manchmal erfrischend angeschrägten Sound.

 

 

 

 

Albert Luxus: YinYin
Was so sehr nach einem einzelnen Singer-Songwriter im Seidenanzug klingt, ist das Duo aus Matthias Albert Sänger und Andreas Kiwitt. Ersterer Sänger, zweiter Schlagzeuger, machen sie schon ewig gemeinsam Musik. Ein schönes, unprätentiöses und klug betextetes Indiepop-Album über das Ungleichgewicht der Welt in klassischer Rock-Instrumentierung plus Solina String Ensemble-Synthesizer.

 

 

 

 

Kaak: Schrei Doch
Vier Musiker in klassischer Bandbesetzung und mit unüberhörbarem Faible für die Neunziger inklusive regelmäßiger, kleinerer Hardcore-Explosionen: Das klingt eher vorhersehbar, überrascht aber immer wieder, und das ganz einfach durch richtig gutes Songwriting. In bester Billy Talent-Manier, nur eine Etage tiefer, kippt der sympathisch angepisste Gesang von Frontmann Leon Kaak immer wieder in Screaming.

 

 

 

 

Spidergawd: VI
Sie wollen doch nur rocken. Ebenso verlässlich wie die Trondheimer, ursprünglich ein Nebenprojekt der Psychedelic-Progband Motorpsycho, ihre Alben mir römischen Ziffern durchzählen, bleiben sie stilistisch geradeaus: Stonerrock mit Saxofon. Dank Neuzugang, dem zweiten Leadgitarristen Brynjar Takle Ohr, verschiebt sich der Sound der Trondheimer noch ein wenig hin zu klassischem Thin Lizzy-Rock mit ein wenig Saxofon.

 

 

 

 

Omnium Gatherum: Origin
Die Melodic-Death-Metal Band aus dem finnischen Kotka schlägt zum neunten Mal zu. Nachdem sie erst sieben Jahre nach ihrer Gründung mit einem Debütalbum aufwarten konnten, zeichnen die Mannen sich seither durch eine hartnäckige Präsenz aus – zahlreiche Wechsel auf allen Positionen außer der des Leadgitarristen und Haupt-Songschreibers Markus Vanhala, inbegriffen. Stilistisch besticht man durch den Wechsel von melodischen, mehrstimmigen Klargesängen und den Genre-immanenten Growls, getragen von oft bestechend schönen, epischen Klangbildern und Vanhalas tadelloser Gitarrenarbeit. Progressive Tempo- und Stimmungswechsel sorgen für ein durchgehend kurzweiliges Erlebnis für alle, die sich mit den besagten Growls anfreunden können. Nicht zu unterschätzen ist hierbei, dass Shouter Jukka Pelkonen, gemessen am Kollegium der Death-Metal-Gemeinde, eher gute Laune verbreitet.

 

Eldovar: A Story Of Darkness & Light
Ein ausuferndes Werk zwischen Rock, Prog und Alternative ist die Frucht der Zusammenarbeit der Berliner Band Kadavar mit der Heavy-Psych-Band Elder, Berliner Neu-Immigranten aus Massachusetts. Zwischen März und Juni 2021 verschanzte man sich in Kadavars Robotor Studios in Berlin und tat, was jeder für sich gerade nicht konnte: jammen und einfach fließen lassen. Das Projekt gewann an Struktur und brachte in einer kreativen Kernschmelze Musik hervor, die sphärisch-rauschhaft bis prügelnd ebenso den bissigen Druck von Kadavar wie auch die feineren Ornamente von Elder durchschimmern lässt. Irgendwann steht fest: Das hier darf nicht nur irgendeine Session unter befreundeten Musikern bleiben. Das hier muss ein Album werden. Mit der Single „Blood Moon Night“, partiell eine echte Pink Floyd-Hommage, liefert Eldovar vielleicht das schönste Gitarren-Intro des Jahres.
● Annika Bachem

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Hendrik von Drachenfels:  Irgendwas in mir

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Hendrik von Drachenfels: Irgendwas in mir


Erwachsenwerden ist nie leicht. Die Pubertät ist eine schwierige Zeit, in der man seine Identität erst noch finden muss. Trotzdem wird man mit Dingen konfrontiert, die man nicht mehr anderen überlassen kann. Die Schule ist ein Ort, an dem die meisten Herausforderungen zusammentreffen: die Erwartungen der Eltern, der Druck durch ständige Bewertung und das Chaos an Gefühlen durch Freundschaften, Selbstzweifel und Hormone. Sich in diesem Durcheinander zurechtzufinden, kann ganz schön schwer sein. Manche Jugendliche entwickeln deswegen eine Schulangst, die sich häufig auch in psychosomatischen Symptomen äußert und deshalb erst spät erkannt wird. Hendrik von Drachenfels ist Grundschullehrer in Hannover und hat sich mit diesem Thema eingehend beschäftigt. Im Oktober 2021 veröffentlichte er seinen Debütroman „Irgendwas in mir“. Darin wird die Geschichte eines Jugendlichen erzählt, der plötzlich nicht mehr zur Schule geht.

Hugos Kindheit scheint perfekt. Er lebt mit seinen Eltern und seinem Bruder in einem kleinen Dorf am Rande der Stadt, ist beliebt in der Grundschule. Doch schon bald wird er konfrontiert mit den ersten Problemen, die ihn aus seiner kindlichen Geborgenheit reißen: Seine Mutter erkrankt an Krebs und die Ehe der Eltern beginnt zu bröckeln. Zwar übersteht sie die Krankheit, aber seine Eltern lassen sich scheiden und so steht Hugo die erste von einigen Veränderungen bevor. Dann ist die Grundschule vorbei und er wechselt ohne seine Schulfreunde in die Orientierungsstufe. Schon bald beschließt seine Mutter, in die Stadt zu ziehen – eine weitere große Veränderung für Hugo, an die er sich nur schwer gewöhnt. Durch den Ortswechsel wird das eh schon angespannte Verhältnis zu seinem Vater noch distanzierter. Er fühlt sich von ihm ungeliebt und übersehen. Gerade, als er sich endlich an die neue Situation gewöhnt hat, steht schon der nächste Wechsel bevor: Hugo kommt ans Gymnasium, und wieder muss er seine Schulfreunde hinter sich lassen. Wieder fällt es ihm schwer, sich einzugewöhnen, außerdem leidet er zunehmend unter dem Leistungsdruck, den seine Lehrer und Eltern auf ihn ausüben.
Irgendwann macht sich das auch körperlich bemerkbar. Im Englischunterricht wird ihm plötzlich übel – er bekommt das Gefühl, in einem rasenden Zug zu sitzen, über den er keine Kontrolle hat. Der Unterricht zieht an ihm vorbei, ohne dass er davon etwas wahrnehmen kann. An diesem Tag verlässt er die Schule früher – und geht für mehre Monate nicht wieder hin. Die ersten Wochen, in denen er fehlt, glaubt seine Mutter noch, dass er einfach nur krank ist. Doch nachdem er sogar im Krankenhaus ergebnislos untersucht wird, weiß sie nicht mehr weiter. Auch Hugo versteht nicht, warum er sich so fühlt und wieso es ihm so unmöglich erscheint, zur Schule zu gehen. Er weiß nur, dass er sich zu Hause bei seiner Mutter sicher fühlt und bei dem Gedanken an die Schule das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren. Er zieht sich immer weiter zurück, hat keine sozialen Kontakte mehr und fühlt sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft. Nach drei Monaten, in denen Hugo nicht in der Schule war, schickt ihn seine Mutter zu einer Psychiaterin. Mit ihr arbeitet Hugo seine Kindheit, die Trennung seiner Eltern und das Verhältnis zu seinem Vater auf. Zwar versteht er jetzt besser, worin sich seine Schulangst begründet; trotzdem schafft er es nicht, zur Normalität zurückzukehren. Die Therapie scheint Hugo nicht wirklich weiterzubringen und so droht ihm als nächster Schritt ein Psychiatrie-Aufenthalt. Doch bevor es so weit kommt, hat Frau Vergille, Hugos Psychiaterin, eine andere Idee: Sie schlägt vor, dass er einen Schulbegleiter bekommt. Zuerst ist Hugo skeptisch, aber er merkt schnell, dass er Herrn Lichte vertrauen kann. Zusammen gehen sie jeden Tag erst mal nur bis vor die Schule. Doch Hugo weiß, ewig kann es so nicht weitergehen, irgendwann muss er seine Ängste konfrontieren und wieder zurück in den Unterricht …
Spannend und emotional erzählt Hendrik von Drachenfels in seinem Roman Hugos Geschichte und lässt dabei tief in die Gefühls- und Gedankenwelt eines Jugendlichen blicken, der Probleme damit hat, sich den Schwierigkeiten des Alltags zu stellen. Dabei wird immer wieder deutlich, wie prägend für das weitere Leben die Kindheit und auch die Beziehung zu den eigenen Eltern ist.
Hendrik von Drachenfels, geboren 1992 in Hannover, studierte nach seinem Abitur an der Universität Hildesheim Grundschullehramt. Heute arbeitet er als Grundschullehrer in Hannover. Eigene Erfahrungen mit Schulangst in seiner Jugend haben ihn dazu motiviert, seinen Roman zu schreiben. Auch beruflich kommt er  mit dieser Thematik häufig in Berührung und stellt fest, dass das Problem gerade durch Corona noch einmal verstärkt wird. Mit seinem Roman beleuchtet er also ein sehr aktuelles und leider noch viel zu wenig beachtetes Thema.

      ● Jona Daum

 

 

Irgendwas in mir
von Hendrik von Drachenfels
Books on Demand
268 Seiten
9,99 Euro

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