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Der Freundeskreis im Gespräch im September

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Der Freundeskreis im Gespräch im September


Der Freundeskreis im Gespräch
Dietmar Althof und Dr. Bala S. Ramani

Diesen Monat sprechen wir mit den Freundeskreis-Mitgliedern Dietmar Althof (DA), Gastronom, ehemaliger Seniorpartner der Schlossküche Herrenhausen, heute Grauwinkels und langjähriger Mövenpick Restaurants Deutschland Chef, und Dr. Bala S. Ramani (BR), u. a. Ratsherri m Stadtrat der Landeshauptstadt Hannover, über die Stärken und das Image Hannovers.

Zuerst wie immer unsere kleine Vorstellungsrunde …

Dietmar Althof

DA – Ich bin 1951 geboren und 1977 nach dem Studium nach Hannover gekommen, um damals das Café Kröpcke wieder mit aufzubauen, in seiner heutigen Form. Die Schweizer Firma Mövenpick hatte den Zuschlag bekommen und ich war neuer Vizedirektor und habe dort meine Sporen verdient. In der Zeit habe ich Hannover kennen und lieben gelernt. Die Stadt ist meine Heimat geworden. Ich fühle mich hier richtig wohl, ich bin Hannoveraner mit Leib und Seele. Und das Herz der Innenstadt hat mich immer besonders beschäftigt. Wobei ich mich insbesondere für die Oper interessiere. Die war ja nun – in dem Fall leider – gerade erst wieder in aller Munde, weil die Intendantin Laura Berman aufs Übelste antisemitisch beschimpft worden ist. Wir haben uns als Nachbarn natürlich zusammengeschlossen und uns solidarisch gezeigt. Ich bin auch selbst viel kulturell unterwegs, spiele immer noch gerne Theater. Ich bin außerdem seit vielen Jahren Mitglied im Freundeskreis und Kuratoriumsmitglied. Die Belange der Stadt interessieren mich. Ich durfte damals hautnah den Aufbau zur EXPO-Stadt miterleben. Und wir haben damals am Kröpcke auch das EXPO-Café angegliedert. Das war ein großer Erfolg, großartige Veranstaltungen, Events und tolle Partys. Also, Hannover bedeutet mir eine ganze Menge. Hannover ist mein Leben.

Du musst noch kurz verraten, was du studiert hast …
DA –
Ich habe die Aufnahmeprüfung bei einer berühmten Schauspielschule in Österreich gemacht und bestanden. Und bin dann jobben gegangen, in die Schweiz, bei Mövenpick. Und der Eigentümer hat gesagt: „Du bist so gut für die Gastronomie, du musst Gastronomie machen. Weißt du was, ich schicke dich nach Amerika auf die Cornell University. Da bekommst du Gastronomie, da bekommst du Wirtschaftspolitik“. Also habe ich dort Wirtschaftspolitik studiert.

Dr. Bala S. Ramani

Jetzt zu dir, Bala …
BR –
Ich heiße Balasubramanian Ramani, kurz Bala, das war immer einfacher für die Menschen hier (lacht). Ich bin promovierter Meeresbotaniker. Bei meinem Promotionsthema hier in Hannover an der Leibniz Universität ging es beispielsweise darum, zu untersuchen, wie Küstenpflanzen gegen den Klimawandel wirken können. Ich habe den Master in Meeresbiologie und ein Botanik-Studium. Ich bin in Indien geboren und vor 23 Jahren nach Hannover gekommen, im EXPO-Jahr 2000. Das ist auch für mich ein ganz besonderes Jahr, an das ich mich gerne erinnere. Ich bin noch immer an der Leibniz Universität Hannover tätig, ich bin dort beschäftigt, seit ich in Hannover bin. Zuerst war ich Doktorand in der Forschung, später wissenschaftlicher Mitarbeiter. Heute bin ich zuständig für die Internationalisierung der Hochschule, insbesondere für den asiatischen Raum und auch Afrika. Und ich bin weltweit an großen Projekten beteiligt, in Lateinamerika, Asien und Afrika, Länder, in denen wir Auslandsämter aufbauen, wo Studierende für den Austausch hinkönnen. Das gibt es bisher in vielen Ländern noch nicht. Wir unterstützen mit unserem Wissen, unserem Know-how. Ich bin dazu auch weiter in der Forschungskommunikation tätig, also nicht ganz getrennt von der Forschung, trotz Verwaltung und Koordination.

Und du bist im Stadtrat.
BR –
Ja, seit 2012 bin ich auch in der Politik tätig. Ich bin in die Sozialdemokratische Partei eingetreten und war zuerst im Bezirksrat Mitte. Seit 2021 bin ich nun gewählter Ratsherr für die Landeshauptstadt. Ich bin der umweltpolitische Sprecher der Fraktion und Mitglied im Kulturausschuss und im Ausschuss für Internationales. Ich bin außerdem Gründer des Indischen Vereins Hannover, den es mittlerweile schon 15 Jahre gibt. Wir waren maßgeblich daran beteiligt, dass die Büste von Mahatma Ghandi direkt am Rathaus steht. 2021 habe ich mich sehr gefreut über eine hohe Auszeichnung, ich bin mit dem Pravasi Bharatiya Samman Award für im Ausland lebende Inder ausgezeichnet worden, da geht es um die Würdigung des Einsatzes für die Zusammenarbeit zwischen Indien und Deutschland, vergleichbar mit dem Bundesverdienstkreuz in Deutschland. Aber auch wenn ich mich noch viel mit Indien beschäftige, Hannover ist längst mein Zuhause und Niedersachsen ist meine Heimat. Ich bin sehr gerne hier.

Zwei Hannoveraner mit Fleisch und Blut …
DA –
So kann man das auf den Punkt bringen, das könnte die Headline sein.

Was euch verbindet, ist auch die Liebe zur Kultur. Du, Dietmar, bist für die Kultur in Hannover auch mal in die Wanne gestiegen …
DA – Ja, das ist schon ein paar Jahre her. Das war damals auf dem Opernplatz. In der Sparte Ballett sollte u. a. gespart werden. Und wir haben gesagt: Die Kultur darf nicht baden gehen. Also bin ich in die Wanne. Wir müssen alle gemeinsam auf unsere Kultur aufpassen, wir müssen ein Auge darauf haben, dass sie insgesamt ausreichend gefördert wird. Das gilt für alle Bereiche. Bei mir war es damals das Engagement fürs Ballett, weil ich selbst mal Ballett getanzt habe. Damals haben wir auch die Ballett Gesellschaft gegründet, mit dem internationalen Choreografie Wettbewerb.
BR – Kultur ist das, was uns alle verbindet. Ich habe damals im Jahr 2000 die Oper zum ersten Mal kennengelernt, meine Professorin hat mich mitgenommen. Und das war schon ein spezielles Erlebnis, ich habe natürlich nicht viel verstanden. Die Kultur in Deutschland ist ganz anders als in Indien. In Indien gibt es eine wahnsinnige Vielfalt, man fährt 30 Kilometer und die Kleidung ist komplett anders. Man lebt seine eigene Kultur in der Familie. Indische Musik, das Theater, die Kunst ist komplett anders als im Westen. Inzwischen habe ich aber auch die westliche Kultur verinnerlicht und weiß, wie wichtig sie für unser Zusammenleben ist. Kultur ist wie Essen. Überlebenswichtig. Und alles ist Kultur. Wie wir kommunizieren, wie wir miteinander umgehen. Auch das gehört für mich zum Kulturbegriff. Ich fasse das sehr weit.
DA – Ich möchte noch ergänzen, dass aus meiner Sicht die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur gar nicht früh genug beginnen kann. Ich denke, dass das eine zentrale Aufgabe der Bildungs- und Sozialpolitik sein muss. Bildung fängt schon in der Kita an. Das ist essentiell, das sorgt für Chancen. Der beste Tänzer der Welt, die beste Sängerin, der beste Schriftsteller, sie werden nie erkannt, wenn sie keine Chance bekommen. Ich hatte hier in Hannover eine Patenschaft bei einer Kita und es stellen sich ja viele Fragen: Was essen die Kinder? Was bekommen sie zum Frühstück? Wird frisch gekocht? Aber auch: Was singen sie? Was lesen sie? Bildung beginnt in der Kita. Doch es gibt auch bei uns immer noch viele Kinder, die diese Chance, diese Notwendigkeit nicht bekommen. Kultur und Soziales ist in diesem Sinne für mich immer eine Einheit gewesen und nicht voneinander zu trennen. Ein kleiner Gesangsverein, der mit Kindern oder mit alten Leuten singt, macht wichtige Kulturarbeit und Sozialarbeit. Wenn ich davon rede, dass die Kultur gefördert werden muss, dann rede ich immer über das Ganze und nicht allein über die Hochkultur. Wir müssen da sehr in der Breite denken. Und alles auskömmlich fördern.

Aber es sieht jetzt so aus, dass im Bereich der freiwilligen Leistungen ziemlich umfangreich der Rotstift angesetzt werden soll.
BR – Der Stadtkämmerer, Herr von der Ohe, hat sich dazu schon klar positioniert und gesagt, dass Sport und Kultur eben nicht nur „nice to have“ sind, sondern überaus wichtig für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Es ist klar und wir wissen alle, dass gespart werden muss, es gibt die Vorgaben der Kommunalaufsicht. Aber wir dürfen trotzdem nicht dem Sport und der Kultur schaden. Wir müssen eine Lösung finden. Vielleicht auch viele Lösungen. Für mich ist ganz klar, wenn wir bei den Vereinen, bei der Kultur, beim ehrenamtlichen Engagement kürzen, dann stärken wir die Rechten. Ich finde das gefährlich, gerade in diesen Zeiten. Wir haben da eine große Verantwortung für den Frieden in dieser Gesellschaft. Die Kultur bringt alle zusammen. Ja, wir müssen sparen, aber wir müssen klug sparen.
DA – Wobei wir aber auch ein bisschen Vertrauen können auf das Engagement der Kulturschaffenden. Nicht alles muss finanziert und subventioniert werden. „die hinterbuehne“ ist da für mich ein herausragendes Beispiel. Es geht auch ganz ohne Förderung. Ich spiele dort seit Jahren selbst Theater mit unserer Gruppe, der „Tribüne“, die Fitzek-Stücke und jetzt diese wunderbare Extra-Wurst, bei dem ich die Hauptrolle habe. Die füllen dort ihr Theater mit verschiedensten Veranstaltungen. Man kann also auch in Eigenregie etwas auf die Beine stellen. Und „die hinterbuehne“ ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Es ist beeindruckend, was Utz Rathmann und sein Team dort leisten.

Ich finde es trotzdem gut, wenn viel gefördert wird, eher mehr als weniger …
DA –
Ich sage auch nur, dass nicht alles eine Frage des Geldes ist. Man kann auch mit Eigeninitiative viel auf die Beine stellen. Das gilt ja nicht nur für die Kultur, das gilt auch für die Wirtschaft. Es braucht immer ein gewisses Maß an Eigeninitiative und Mut. Ich denke bei der Kultur zum Beispiel an den „Kulturhafen“ – ganz junge Leute, die das gemeinsam ins Leben gerufen haben. Absolut großartig. Oder auch der „Andersraum“. Ausstellungen, Bilder, Lesungen, Gruppen etc. – ein ganz toller Verein. Kultur für alle.

Es gibt ja momentan wieder die Diskussionen um das Image Hannovers. Und dann ist immer auch die Rede davon, dass Hannover kulturell nicht genug strahlt. Ich finde das nicht. Ich finde, wir gucken nur nicht genau genug hin. Es gibt ganz viel …
BR –
Wir sollten uns erstens nicht immer mit Berlin, Hamburg oder München vergleichen, und ja, wir sollten wahrscheinlich ein bisschen mehr Selbstbewusstsein entwickeln, denn Hannover hat kulturell wirklich unfassbar viel zu bieten. Manchmal fällt es schwer, sich zu entscheiden, weil so viel parallel läuft. Und es ist tatsächlich so, das vieles gar nicht gesehen oder gewürdigt wird. Wenn man zum Beispiel Leute aus Hannover fragt, ob sie schon mal im Historischen Museum waren, dann gibt es sehr viele, die das bisher ausgelassen haben. Dabei ist das ein ganz großartiges Haus. Ich denke, wir brauchen da ein Marketing in der Stadt, das sich gezielt an die eigenen Bürger*innen richtet. Und ich finde außerdem, wir sollten ein bisschen mehr eine andere Stärke herausstellen. Hannover ist multikulturell. Wir sind sehr international aufgestellt. Und das bildet sich aus meiner Sicht im Kulturangebot der Stadt noch nicht ausreichend ab. Vielleicht würde es sich lohnen, künftig ein bisschen mehr in diese Richtung zu denken. Außerdem brauchen wir Marketingstrategien, die gezielt auf jüngere Menschen zugeschnitten sind. Die schauen nicht mehr klassisch in die Zeitung. Da müssen wir neue und kreative Wege entwickeln.
DA – Hannover hat wirklich enorm viel zu bieten und muss sich nicht verstecken. Ich kenne auch keine Halbmillionenstadt, die in den letzten 20 Jahren einen Bundeskanzler, einen Bundespräsidenten und eine EU-Kommissarin gestellt hat. Irgendwas muss also dran sein an Hannover. Das gilt übrigens auch für den Sport. Und was ebenfalls immer gerne vergessen wird: Wir haben die Scorpions und Fury in the Slaughterhouse. Wir brauchen unser Licht wirklich nicht unter den Scheffel zu stellen. Ich denke, wir müssen noch mehr darüber nachdenken, wie wir Kultur für alle leichter erlebbar und zugänglicher machen. Da ist schon eine Menge auf dem Weg, aber da geht eventuell noch mehr.
Vielleicht freier Eintritt an Montagabenden oder Dienstagabenden für bestimmte Gruppen, für Rentner*innen, Schüler*innen, Arbeitssuchende. Da kann es gerne Zusatzangebote geben, die dann auch stärker kommuniziert werden sollten. Wie gesagt, wir haben schon jetzt wirklich schöne Angebote, wer an Kultur interessiert ist, hat in Hannover die Möglichkeit, Kultur zu erleben, und dazu braucht es gar nicht viel Geld, vieles ist kostenlos. Und jeder und jede ist aufgerufen, die Angebote auch in Anspruch zu nehmen. Aber ist das Angebot schon ausreichend genug in der Breite kommuniziert? Da müssen wir nachlegen. Und wirklich mit viel Selbstbewusstsein an die Öffentlichkeit gehen. Wir haben alles, was eine Großstadt braucht. Übrigens auch ein sensationelles Verkehrskonzept, das die Kultur mit den Tickets unterstützt. Wenn ich als Rentner ein Ticket bekomme, kostet das noch nicht mal 25 Euro und ich kann den gesamten Großraum abfahren. Also, wir müssen uns nicht verstecken. Und wir können alle zu Botschafter*innen werden.

Bala, du hast eben schon angesprochen, dass Kürzungen an den falschen Stellen möglicherweise die rechten Tendenzen in der Gesellschaft verstärken. Wie besorgt blickt ihr auf die aktuellen Umfragen?
BR –
Mit großer Sorge. Wir müssen die Realität erkennen, das ist kein Randthema mehr. Wobei natürlich viele sagen, dass sie AfD wählen würden, weil sie frustriert sind, enttäuscht von der Politik. Auf verschiedenen Ebenen. Und das kann ich insofern nachvollziehen, weil die Politik sich momentan zumindest auf der bundesdeutschen Ebene sehr um sich selbst dreht. Selbst, wenn Gutes auf den Weg gebracht wird, dringt das gar nicht mehr durch. Wir müssen weitaus mehr kommunizieren. Ich bin sehr viel unterwegs und ich stelle immer wieder fest, dass man mit den Menschen sehr ehrlich sein kann. Wir können ruhig sagen, was machbar ist und was nicht machbar ist. Wo wir Kompetenzen haben, wo auf Bundesebene oder Landesebene entschieden wird. Das müssen wir erklären und dafür müssen sich alle Politiker*innen die Zeit nehmen. Aber wir müssen vor allem auch zuhören. Und Zuhören ist ein großes Problem von Politiker*innen. Sie sagen immer „Ich muss, ich muss, ich muss …“, sie sind immer schon wieder auf dem Sprung. Und wenn das passiert, fühlen sich die Menschen nicht ernst genommen. Also wenden sie sich jenen zu, die vermeintlich zuhören. Und die die leichten Lösungen anbieten. Wobei sie natürlich ganz genau wissen, dass ihre einfachen Vorschläge niemals realisierbar sein werden.
DA – Dass da viel in die falsche Richtung läuft, sehen wir ja an so einem Vorfall wie mit Laura Berman. Aber wenn ich hier so in unsere Runde blicke, dann habe ich auch Hoffnung. Jung und multikulturell, das ist die Mitte. Und ich hoffe sehr darauf, dass diese neue Generation jetzt das Zepter von uns Alten übernimmt und es besser macht. Wir haben viele Fehler gemacht, nicht nur in der Umweltpolitik, in verschiedenen Bereichen. Klar, wir haben auch Positives erreicht in Deutschland, unseren Wohlstand. Aber was haben wir in Europa und in der Welt erreicht? Es ist uns nicht gelungen, die Schere enger zu machen. Es gibt ein großes Ungleichgewicht, immense Ungerechtigkeiten. Ich hoffe sehr, dass die kommenden Generationen das in den Griff bekommen.

Haben wir in unserer Gesellschaft noch genug Zusammenhalt, gibt es noch die Mitte, die aufeinander achtgibt, die sich gegenseitig unterstützt? Oder haben wir eher ganz viele Egoshooter großgezogen in den vergangenen Jahren?
BR – Ich bin überzeugt und erlebe auch jeden Tag, dass es diesen Zusammenhalt weiter gibt. Ich erlebe das an der Universität, im Verein, auch in der Politik, in der Nachbarschaft. Es gibt nach wie vor eine sehr große Hilfsbereitschaft, das haben wir wieder bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine erlebt. Oder nehmen wir das Erdbeben in Syrien und der Türkei – die Hilfsbereitschaft war riesengroß. Und wenn es Hassbriefe oder Ähnliches gibt, dann reagiert die Zivilgesellschaft ebenfalls noch immer sehr unmittelbar.
DA – Ich denke auch, dass wir weiterhin an den richtigen Stellen aufstehen und den Rücken gerade machen werden. Das müssen wir, das ist eine Hauptaufgabe. Paroli bieten. Couragiert sein. Ich denke, dass für die AfD und die Ideen dieser Partei in unserer Gesellschaft kein Platz ist. Wir können uns wirklich darüber freuen, dass wir eine so bunte, offene und freie Gesellschaft haben. Dass das so bleibt und vielleicht auch noch offener wird, dafür sollten wir alle mit großer Leidenschaft kämpfen.

Lak

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Der Freundeskreis im Gespräch im August

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Der Freundeskreis im Gespräch im August


Vera Brand und Corinna Weiler

Diesen Monat haben wir mit den Freundeskreis-Mitgliedern Vera Brand vom Kulturraum Region Hannover e.V. und Corinna Weiler vom Andersraum e.V. gesprochen: über Diskriminierung sowie über Repräsentanz und Empowerment marginalisierter Gruppen, über Gegenwind sowie über Möglichkeiten der Aufklärung …

Stellt euch doch beide einmal vor.

Vera Brand

VB – Ich bin Vera Brand und Vorsitzende vom Kulturraum Region Hannover e.V., ein ehrenamtlicher Verein. In der Reihe Kulturperlen stellen wir die Vielfalt der Kultur in den 21 Städten der Region vor.
Wir rücken deren kulturelle Highlights
ins rechte Licht: etwa bei Ausstellungen in der Kröpcke Uhr, die der Künstler Joy Lohmann, 2. Vorsitzender unseres Vereins, kuratiert.
Wir vom Vorstand, vom Kulturraum, kommen aus unterschiedlichen Bereichen. Ich selbst als Kulturveranstalterin, eine Kunsthistorikerin, einer war im Marketing tätig. Es ist also eine bunte Mischung an Leuten, die das organisieren, und wir nehmen dann Kontakt mit den Verantwortlichen der Orte auf, besichtigen mit Kulturinteressent*innen verschiedene kulturelle Kleinode, so als Schnupperkennenlernen: auch mit den Künstler*innen in Ateliers und in Kirchen mit Konzerten … ganz unterschiedliche Dinge.

 

Cora Weiler

CW – Ich bin Cora Weiler, mein Pronomen ist sie. Ich sage Pronomen immer dazu, weil man ja nicht von sich aus wissen kann, mit welchem Pronomen eine Person angesprochen werden will. Und ich arbeite im Andersraum. Der Andersraum hat vier Projekte. Das Queere Zentrum in der Nordstadt, wo sich Gruppen treffen, wo Veranstaltungen und Beratung stattfinden. Angedockt daran ist ein Gesundheitsprojekt, in dessen Rahmen medizinische Fachkräfte zu queeren Themen fortgebildet und queere Menschen empowert werden, um ihre Rechte im Gesundheitssystem besser zu kennen. Dann das Queere Jugendzentrum mit Gruppen, einem offenen Café, Ferienfreizeiten, Workshops, Beratungetc. Dann haben wir das Schlau-Projekt: ein Bildungs- und Aufklärungsprojekt, wo peer-to-peer queere Jugendliche in die Schule gehen und dort über diese Themen sprechen. Das vierte Projekt ist der Christopher Street Day.

VB – Da ist ja auch der Freundeskreis sehr dabei.

CW – Genau, und es gibt inzwischen 28.000 Besucher*innen, hier am Opernplatz. Und eben CSD-Kulturtage übers Jahr verteilt, mit einzelnen Veranstaltungen. Das ist das Spektrum. Wir haben als Vision „Damit du sein kannst, wie du bist.“ Das klingt so unschuldig, ist aber ganz schön radikal und groß. Wir wollen, dass jeder Mensch frei und selbstbestimmt leben kann – egal wie er sich sozialstrukturell positioniert. Und da sind wir noch weit von weg, wenn wir uns anschauen, was es an Diskriminierung vielfältigster Art gibt. Wenn wir etwas veranstalten, gucken wir, ob das auf dieses Wirkungsziel Freiheit und Selbstbestimmung einzahlt: Das ist quasi die Grundüberlegung.

Wie weit sind wir denn von dieser Vision entfernt? Es scheint zwar viel Empowerment, viele Plädoyers für Queerness zu geben, aber auch Gegenwind, der anwächst.

CW – Die Wahrnehmung teile ich persönlich. Sie lässt sich auch durch Studien untermalen. Kürzlich gab es eine Fachtagung, die die Landeshauptstadt organisiert hat, wo Prof. Dr. Dominic Frohn aktuelle Studien zur Queerfeindlichkeit auch intersektional vorgestellt hat und sagen konnte, dass zum einen die Akzeptanz gestiegen ist … Aber die Diskriminierungserfahrungen sind – statistisch erwiesen – immer noch genauso hoch. Das ist also ein paradoxer Doppelbefund. Und ein Drittel der Bevölkerung sagt etwa: „Ich finde es ekelhaft, wenn sich ein Männerpaar in der Öffentlichkeit küsst.“ Ein Drittel. Das hat natürlich reale gewaltvolle Auswirkungen in der Praxis. Das haben wir jetzt beim CSD gesehen, wo es queerfeindliche Angriffe gab, auch sexualisierte Übergriffe. Ich habe den Eindruck, dass die Verrohung, die wir auch in den Schulen bemerken, nicht zufällig ist. Es werden durch rechtsextreme Netzwerke und russische Einflussnahme in den sozialen Medien gerade trans*Themen gezielt instrumentalisiert, um zu spalten und gegen eine Minderheit zu mobilisieren. Und wir sind wenige.

VB – Aber ich glaube ja, dass es wesentlich mehr sind, die sich nur nicht outen, die sich nicht trauen, zu ihrer Identität zu stehen. Ich habe im persönlichen Bereich, gerade bei Schauspieler*innen, viel derartiges erlebt. Vielleicht ist das jetzt heute auch ein bisschen anders, aber es war so. Oder gehen wir mal in diesen Bereich der Fußballer. Jeder weiß, wie viele Fußballer auch in den oberen Kategorien, nicht heterosexuell sind. Und da mag keiner was sagen … Es ist wichtig, dass wirklich Aufklärung in die normalen Bereiche gebracht wird. Dass viel erzählt und berichtet wird. Ich bin auch bei Soroptimist International, hier im Club Hannover 2000, und wir haben neulich einen Abend gehabt, der so aufschlussreich war: Da waren Pia und Luzi, das sind zwei Trans-Männer, die kamen in ihrem Trans-Outfit und haben eine Präsentation abgehalten, auch darüber, wie für sie das Coming-out war. Die waren allen so sympathisch, dass auch die, die sonst keine Berührung damit hatten, das nachvollzogen haben. Aufklärung klingt vielleicht zu belehrend – aber ein Kennenlernen, dass die Menschen sich näher kommen, sich austauschen, miteinander zu tun haben: das ist wichtig.

CW – Genau. Wir teilen unsere Arbeit auf in Empowerment- und Antidiskriminierungsarbeit. Empowerment-Arbeit richtet sich an eine queere oder sonst wie marginalisierte Zielgruppe, sodass sie Stärkung bekommen. Und die Antidiskriminierungsarbeit, liebevoll auch Erklär-Bär-Arbeit genannt, richtet sich an eine Mainstream-Bevölkerung. Die Schulworkshops sind dafür das beste Beispiel: rund 100 Workshops pro Jahr bei 300 Anfragen. Und der CSD an sich, der ist ja auf eine Art auch beides. Was übrigens das Coming-out am Arbeitsplatz, speziell in der Kulturbranche, betrifft: Es gab ja vor wenigen Jahren Act-out als Kampagne, wo sich eben Schauspieler*innen konzertiert geoutet haben. Und ich war total erstaunt, weil ich dachte, die Branche wäre so offen … Ist sie aber eben nicht! Die sagen sich: „Wenn ich mich oute, werde ich nicht mehr für bestimmte Rollen besetzt.“ Das hat reale Auswirkungen auf eine Karriere.

VB – In Hannover sind wir ja, was das Schauspiel betrifft, wirklich weit. Eine große Offenheit. Schade, dass Sonja Anders jetzt nach Hamburg geht. Auch großartig die Leiterin vom jungen Schauspiel, Barbara Kantel: ebenfalls eine ganz Offene. Was da für Aufführungen sind! Die fördern wir zum Beispiel von den Soroptimistinnen. In Hannover scheinen wir da schon weit zu sein. Ich glaube, dass die Probleme im ländlichen Bereich doch noch größer sind. Welche Erfahrung hast du da?

CW – Also da müsste man jetzt die Einstellung sozialwissenschaftlich untersuchen, ob das so stimmt. Mir sind keine Studien bekannt, wo Stadt-Land-Unterschiede diesbezüglich verschieden erhoben worden wären. Fakt ist aber, dass eine größere Infrastruktur auf dem Land schwerer herzustellen ist. Es gibt da einfach weniger queere Menschen. Und ich glaube, für queere Menschen ist immer noch das erste Mal präsent, wo sie zum CSD oder in eine Gruppe gegangen sind und gemerkt haben: „Ich bin nicht die einzige queere Person, es gibt andere.“ Gerade für Jugendliche ist es wichtig, dass sie ein breites Spektrum an Rollenvorbildern haben; dass sie auf dem Land nicht nur die eine andere lesbische Frau als Orientierung haben, sondern eben ein Spektrum.

Bleiben wir kurz beim Coming-out. Der Begriff wird ja teils auch kritisiert, weil er impliziert, dass man vorher etwas verbergen würde …

CW – Naja, es ja ein inneres und äußeres Coming-out. Das innere Coming-out wäre: Ich werde mir meiner Selbst, meiner Identität bewusst. Das kann sich auch noch ändern … für alle von uns. Das ist ja oft der langwierige Prozess. Wenn der durchlaufen ist, ist die Frage: „Zeige ich mich nach außen?“ Die Annahme ist ja in der Regel, dass ich cis-geschlechtlich und heterosexuell bin. Das wird ja auf mich projiziert. Das muss ich dann richtigstellen. Und das ist mein Coming-out.

VB – Und es ist auch so, dass jeder Mensch ja erstmal die Suche nach sich selber hat, ganz gleich, ob es ums Geschlecht oder andere Dinge geht. Man muss sich ja im Leben erstmal finden und selber annehmen, wie man ist – auch im heterosexuellen Bereich. Sich selber sagen, wer man ist, wer man sein möchte und wie man sich nach außen zeigt: das ist ein Lernprozess, den man immer durchlaufen muss – ganz gleich, ob queer oder hetero.

CW – Total, individualpsychologisch auf jeden Fall. Zugleich ist der Unterschied in der marginalisierten Identität, dass es ja gesellschaftsstrukturelle Gewalt gibt, die eben Cis-Hetero-Menschen, wenn sie weiß sind und nicht jüdisch etc., nicht erleben. Queere Menschen werden gesetzlich benachteiligt. Und wenn ich eine Frau in dieser Gesellschaft bin, egal ob cis oder trans, werde ich mit höherer Wahrscheinlichkeit sexualisierte Gewalt erleben … erlebe Belästigung im öffentlichen Raum, habe die Pay Gap. Das sind handfeste, belegbare Diskriminierungen.

VB – Ich finde, da sind sogar Rückschritte zu sehen: dass Frauen sich viel häufiger nicht mehr so offen nach außen begeben oder ihre eigenen Meinungen vertreten. Corona hat das verstärkt, dass viele sich wieder mehr ins Heim zurückziehen. Ich meine, ich komme ja aus dieser 68er-Generation: Das war schon eine Befreiungszeit und das hat sich wieder so gewandelt; eine wirklich beängstigende Entwicklung.

Was die Rückschritte betrifft: Einige sagen, es nerve sie … Gender, Queerness, Diskriminierung. Teils kommt der Vorwurf, dass sich Leute in einer Opferrolle suhlen würden. Gibt es diesen Nebeneffekt, dass mehr Sichtbarkeit, mehr Unterstützung in der Kultur zu solch einer Abwehrhaltung, einem Affront führt?

VB – Auf jeden Fall. Das gibt es aber in allen Bereichen: Wir hatten von Soroptimist letztes Jahr zu den Orange Days in der Kröpcke Uhr die Aktion Tabubruch zum Thema häusliche Gewalt mit der Künstlerin Kerstin Schulz, um den Frauen zu sagen: „Ihr müsst die Türen durchbrechen, ihr müsst rausgehen, ihr müsst anzeigen.“ Und da gibt es ganz viel „Oh, die schon wieder“ oder den Vorwurf, dass man das schon wieder in den Vordergrund stelle. Es gibt Menschen, die sich eh nicht länger mit einem Thema befassen wollen und können; gerade nicht mit Themen, wo sie Berührungsängste haben. In den Medien wird – wie ich finde – erfreulicherweise aber wesentlich mehr sowohl über Queerness als auch über Diskriminierung und Gewalt an Frauen gesprochen.

CW – Also mich nervt das auch kolossal, dass ich immer noch über geschlechtergerechte Sprache sprechen muss, aber es kommt ja real vor. Und wenn jetzt ein Mensch sagt: „Oh, wie nervig, plötzlich kommt es jetzt hier“, dann signalisiert mir das, dass die Person vorher wohl das Privileg hatte, sich nicht damit auseinander setzen zu müssen: Sie hatte mega Glück.

VB – Als nicht queere Person finde ich manchmal aber schwierig, dass man bestimmte Worte nicht mehr nutzen sollte. Es ist gut, über Sprache nachzudenken und sich zu fragen, wie man die Aussageansicht am besten rüberbringt. Und wenn mir jemand sagt: „So und so möchte ich adressiert werden“, dann mache ich das und finde das auch richtig so. Aber ich glaube auch, dass es bei vielen Begriffen so ist, dass es – wenn man sich vorher nicht damit befasst hat – erst einmal ein Störgefühl gibt. Und ich habe auch schon eine Diskussion erlebt, in der andere wenig zu Wort kamen und eine Gruppe wieder und wieder auf ihre Diskriminierung zurückkam …

CW – Vielleicht müssen sich Aktivist*innen so häufig und mit Vehemenz wiederholen, weil wir den NSU, NSU 2.0 und täglich Übergriffe haben. Dass man in dem gesellschaftlichen Kontext denkt, es ist wichtig, es wirklich gut zu erklären, verstehe ich total. Und wenn mir gegenüber etwa eine Schwarze Person auftritt und vielleicht in meiner Wahrnehmung eine Vehemenz hat, dann kann ich mich erstmal fragen: „Warum nehme ich denn diese Vehemenz wahr?“ Vielleicht habe ich ja eine Voreingenommenheit, was Stereotype von Dominanz angeht; vielleicht würde ich eine weiße Person, die so spricht, als gar nicht so dominant wahrnehmen, weil ich es nicht so gewohnt bin, dass eine Schwarze Person mir etwas erklärt. Das kann auch ein Effekt sein …

Gewohnt“ ist ein schönes Stichwort, um auf die Abweichung zu kommen: Andersraum – da steckt ja „anders“ drin. „Anders als die anderen“ hieß 1919 das erste deutsche Spielfilm über Homosexualität, 1957 lieferte der frühere NS-Propagandafilmer Veit Harlan ein eher reaktionäres Remake – bezeichnenderweise nun unter dem Titel „Anders als du und ich“. Hat der Begriff „anders“ nicht teils so ein Geschmäckle?

CW – Ich war bei der Namensgebung nicht dabei, glaube aber, dass es schon ein Erleben von Anderssein im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ist. Und ohne Ansatz sind ja eh alle Menschen anders. Für mich ergibt es Sinn, dass wir versuchen, im Andersraum oder im queeren Jugendzentrum wie eine kleine bessere Version der Gesellschaft zu sein. Ein kleiner Mikrokosmos, wo Dinge einen kleinen Zacken besser laufen.

VB – Ich finde das Wort mit dem „anders“ ganz interessant. Ich habe auch mal eines meiner Festivals „Anderswelten“ genannt, weil ich dachte, man will den Besucher*innen andere Dinge zeigen, als sie zu sehen gewohnt sind … um neue Sehgewohnheiten zu öffnen.

Wie blickt ihr in die Zukunft, wenn die Repräsentanz im Laufe der etwa letzten 10 Jahre merklich anwächst, die Diskriminierung aber nicht schrumpft? Muss man damit rechnen, dass sich sowas erst über 20, 30 Jahre langsam mit kommenden Generationen rauswächst aus der Gesellschaft?

CW – Also zum einen weiß ich gar nicht, ob wir uns jetzt da nur auf die letzten 10 Jahre beziehen sollten Das höre ich oft, das gesagt wird: „Wir waren in den 8oern auch schon mal freier.“ Nicht im gesetzlichen Sinne, natürlich war Homosexualität kriminalisiert, und von trans* haben die wenigstens überhaupt gesprochen … Trotzdem gab es eine empfundene Freiheit. Zum anderen steckt in der Frage ja eine Vorstellung von linearem Fortschritt. Und die teile ich nicht, es sind keine linearen Prozesse.

VB Bekanntlich erfolgen gesellschaftliche Entwicklungen immer in Wellen!

CW – Und wenn wir bewegungsgeschichtlich, auf Emanzipationsbewegungen schauen, sieht man immer, dass es nicht linear läuft. Dein Wort in Gottes Gehör, dass quasi höhere Sichtbarkeit der Themen langfristig dazu führen wird, dass die Tendenz noch weiter steigt und vor allem die Gewalt und das strukturelle Diskriminierende abnehmen. Aber ob das so kommt, wissen wir nicht. Wir müssen weiter kämpfen und streiten, dass es hoffentlich so kommt.

CK/LD

https://kulturraumregionhannover.wordpress.com/kulturraum-region-hannover/

https://www.andersraum.de/

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Der Freundeskreis im Gespräch im Juli

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Der Freundeskreis im Gespräch im Juli


Diesen Monat haben wir mit dem Photografen und Künstler Marc Theis und dem Designer und Künstler Sebastian Peetz gesprochen: Über ihre Arbeit, vor allem über ihre Zusammenarbeit, und auch über ihre Beziehung zu Hannover

Beginnen wir doch mit einer kurzen Vorstellung …

MT – Ich bin seit fast 50 Jahren in Hannover. Ursprünglich komme ich aus Luxemburg. Ich war Sohn eines Malermeisters und früher war es ja so, dass der Sohn werden sollte, was der Vater war. Ich wollte aber Dekorateur werden und habe das gelernt. Daraus entstand die Idee, Grafikdesign zu studieren. An der Kunstakademie in Stuttgart hieß es dann: „Wenn Sie hier studieren wollen, brauchen Sie auch Fotos“. Man hat mir eine Fotoschule in Stuttgart empfohlen – und das war eine spannende Ausbildung. Nach 3, 4 Monaten hatte ich mein erstes Bild verkauft; die hatten Kontakte und ich war scheinbar talentiert. Dann wurde ich an der Kunstakademie angenommen und habe das 4 Jahre gemacht, ab und zu auch bereits Preise gewonnen, bin viel gereist und habe mir schnell mein erstes Geld verdient – bei der Micky Maus. Das klingt witzig, aber die Micky Maus saß damals in Stuttgart und es gab immer Bilderstrecken aus der ganzen Welt mittendrin. Und ich bin unterwegs gewesen in der Welt, als gebürtiger Luxemburger hat man diesen Drang, weil das Land so klein ist. Also habe ich mich da gemeldet – und alle 6 Wochen bin ich dann gereist, nach Griechenland, nach Portugal, das wurde in der Micky Maus veröffentlicht – und richtig gut bezahlt. Es gab auch andere Zeitschriften, die meine Bilder genommen haben. Dieser Erfolg war schön. Dann lernte ich im Urlaub eine charmante Frau kennen, die sagte: „Komm mal nach Hannover. Meine Schwester besorgt dir einen Job an der MHH.“ So bin ich hier gelandet. Und habe um 1977 die ersten Fotos für den Schädelspalter gemacht, Titelbilder und solche Sachen, habe Uli Stein kennengelernt, mit ihm die ersten Fotos und auch gemeinsame Reisen gemacht. Und ich habe mich an der Fachhochschule beworben und hatte einen wirklich guten Dozenten – Heinrich Riebesehl, der mittlerweile auch in allen Museen in Deutschland hängt. Ich habe später die Galerie Spektrum mitbetreut – eine der besten Fotogalerien Deutschlands –, habe Künstler mit ausgesucht, Kataloge, Plakate etc. gestaltet. An der VHS habe ich Kurse gegeben. Und irgendwann habe ich während des Studiums so eine Anzeige der TUI gesehen. Die waren auf der Suche nach einem Werbeassistenten für Touropa München. Ich war 5 Jahren bei der TUI – eins in München, dann wieder in Hannover – und wurde später über Umwege auch Robinson-Fotograf. Irgendwann sagte ich mir dann: „Ich mache mich in Hannover selbstständig!“, habe Räume gesucht – und ein Fabrikgelände in Sarstedt gefunden: ca. 500 m², 7 m hoch, 200 DM Miete. Das habe ich sanieren lassen und eine Party gemacht und alle Werbeagenturen Hannovers eingeladen. Die Party hat allen großen Spaß gemacht und eine Woche danach hat mich B&B angerufen, zu der Zeit die größte Agentur in Hannover, und gefragt, ob ich nicht vorbeikommen könnte, die hätten einen Auftrag für mich. Das war mein erster Kunde und es kamen nach und nach immer mehr dazu. Inzwischen reise ich aber wieder mehr und mache auch Projekte außerhalb von Hannover und Deutschland.

Switchen wir einmal zu dir …

SP – Ich bin Sebastian Peetz – ich arbeite im Bereich Kunst, Typografie und Fotografie, und wir sitzen hier im Café Bodo. Ein interessanter Startpunkt für unser Gespräch, denn das ist das ehemalige Geschäft Photo Dose – mit 16, 17 Jahren war ich ständig hier, als ich ein eigenes Fotolabor hatte. Ich habe mich schon immer, also bereits in Phasen der Kindheit, an die ich mich nur über Fotografien erinnere, für Kunst als Ausdruck über Bild und Schrift interessiert. Das ist ja am Anfang eher eine Energiemischung, von der man nicht weiß, was man draus machen wird. Die Perspektive, dass man sich eines Tages im Rahmen des Studiums beschränken muss fühlte sich einengend an. Ich hatte Sorge, Talente verkümmern zu lassen. Ich wollte alles. Mit einem Freund hatte ich „San Jose Design“ gegründet und mein Kinderzimmer mit einem orangenen Aufkleber als Atelier markiert. Gut war, dass ich mit 16 Jahren nach Amerika ging, raus aus Hannover. Das deckt sich insofern mit Marcs Aussage zu Luxembourg. Hannover ist für bestimmte Energien in gewissen Altersphasen ungeeignet. In Amerika habe ich viel über Computer, Schriftdesign und -satz sowie Ölmalerei gelernt. Kunstunterricht in Amerika ist ganz anders als man das hier kennt. Man wird ernst genommen und es fühlt sich fast akademisch an. Nach einem Jahr bin dann nach Süddeutschland auf ein Internat gegangen. Und von da aus habe ich nach dem Abitur auf einem amerikanischen College in der Schweiz studiert. Ich wusste, ich muss durch ein Studium durch. Aber ich wollte auch nicht ganz, sagen wir „frei schwingen“, sondern wirklich das Handwerk lernen. Das geht mit dem amerikanischen System gut. Die sind irgendwie streng, alles ist emotionslos getaktet. Und das war, was mir fehlte, damit ich sicher bin in der Gestaltung. Nach dem Diplom habe ich gedacht, ich muss nach London, habe mich da bei Agenturen vorgestellt und bei Pentagram Justus Oehler kennengelernt, der sagte: „Du brauchst am Anfang einen einzelnen Menschen, der dir gegenübersteht und der dich spiegelt. Wenn du jetzt in einer großen Agentur landest, dann stehst du am Kopierer.“ Ich kannte einen Namen in Paris. Der wollte aber bald nach Rom, weil er den Prix de Rome gewonnen hatte – und nach drei Monaten sagte ich beim Essen: „Ich könnte für das Jahr die Agentur führen.“ Und er: „So machen wir‘s!“ Ein riesiger Vertrauensbeweis. Wir haben drei weitere Jahre zusammengearbeitet. Andere fahren zum Urlaub nach Rom und Paris, wir waren immer angenehm gestresst. Die beiden Facetten Kunst und Design habe ich bis heute sichtbar getrennt beibehalten, als peetz & le peetz design: „peetz“ ist das Schöpferisch-Kreative, das Freie und Selbstbestimmte und „le peetz design“ ist das, naja, knallharte Geschäft, mit den realistischen Anforderungen, die es von Industrie oder Kultur gibt. Das zu kombinieren hält mich biologisch bei Laune. Mit geht es darum, das Schöpferische ins Nützliche zu wandeln. Glücklicherweise habe ich das als Alleinstellungsmerkmal so überzeugend sichtbar gemacht, dass die Stadt Hannover auf mich zukam, als sie für ihre Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europa 2025 einen Spezialisten zur Umsetzung suchte. Wir haben mit dem entstandenen Bewerbungsbuch die erste Runde gewonnen und Hannover war beeindruckt, wie viele Auszeichnungen dieses erste Werk bekam – international und national. Also durfte ich auch das zweite Buch umsetzen. Das war natürlich eine knackige Herausforderung. Mein Konzept waren dann nicht 100 einzelne Seiten, sondern eine Textilrolle mit den DIN A4-Seiten aneinandergereiht, 21 Meter lang. Es musste erst juristisch geklärt werden, ob die Kulturstiftung der Länder das als Bewerbung überhaupt zulässt. Haben sie. Es war eine herrliche Sache alle Talente zu kombinieren… Kreativität, präzise Umsetzung und gnadenloses Timing, und das vor aller Augen.

Kurz darauf, in Corona-Zeiten, habe ich Marc kennen gelernt. Er wollte ein anspruchsvolles Maskenbuch machen.


Das war euer erstes gemeinsames Buch …

SP – Es sind phänomenale Fotografien von Marc und in einem Ergänzungsband sollten eigentlich dieselben Menschen, vom Ministerpräsidenten über Kultur bis zum Schornsteinfeger, ohne Maske erzählen, wie es war – nur hörte die Masken-Utopie ja in diesem Jahr erst wieder auf. Das ist ein echtes Zeitdokument. Das zweite Buch mit Marc war dann ein Projektbuch zu 125 Jahre Annastift: Thema Teilhabe, Inklusion und Menschlichkeit. Typografisch sensibel gestaltet, ist ein schönes Werk geworden, ein Coffeetable-Book mit einem dafür seltenen Thema. Und nun arbeiten wir bereits am nächsten.

Ein drittes Buch?

SP – Ja. Das beschäftigt sich mit ehemaligen Innenräumen Hannovers: etwa vom Postcheckamt. Das wird jetzt abgerissen und wir schauen, wie es eigentlich innen aussah. Das weiß ja keiner. Wie sah die Deutsche Bank vorher aus? Andere Gebäude? Der Pferdestall am Welfenplatz, bevor er saniert wurde? Hannover hat sich selbst viel Historie genommen. Das Ständehaus wurde nicht im Krieg zerstört, sondern das haben die Hannoveraner abgesäbelt. „Hannover:innen“, so nennen wir das Buch, als kleines Spiel damit, dass alle gemeint sind: ein marketingtauglicher Name in der Gender-Debatte. Bei „Hannover:innen“ geht es auch darum, dass Bilder allein nicht immer reichen, sondern, dass Geschichten dazu sehr wichtig sind: Wir haben einen Journalisten, Sebastian Hoff, gebeten, sich Geschichten auszudenken über die Orte. Kleine Geschichten, pro Bilderserie ein bis zwei Seiten. Das soll dann noch vertont werden, sodass man mit einem Code draufgehen kann. Mit diesen Geschichten wollen wir die Fantasie erreichen – und diese Vertonung ist so relevant, weil sie das erste Mal eine Brücke baut zwischen einem nicht-sehenden Menschen und einem nur-sichtbaren Kunstwerk. Da suchen wir gerade noch jemanden, der das machen kann.

MT – Wichtig zu sagen, ist, dass ich bei dem Buch nicht der alleinige Fotograf bin. Ich habe einen Kollegen, der Architektur fotografiert, Olaf Mahlstedt: Wir sind zwei Fotografen, die unterschiedlich fotografieren – sich in der Mitte des Buches aber auch treffen.

SP – Wie auf dem Cover, auf dem zwei unterschiedliche Fotografien durch gestalterische Positionierung doch Anknüpfungspunkte zueinander aufweisen.

Du tauchst auf dem Cover, im Gegensatz zu den anderen, nicht namentlich auf – ist das vom Gefühl her komisch? Bist du da unsichtbar?

SP – Ganz genau das ist es. Das höchste Ziel des Gestalters ist die eigene Unsichtbarkeit. Wir haben damals ohne Computer erst einmal Buchstaben zeichnen müssen. Das hat Wochen gedauert. Diese Mühe kann man sich heutzutage gar nicht mehr vorstellen. Aber dadurch ist man in dem Werk drin. Ich bin da wirklich innen drin. Das ist das, was ermöglicht, unsichtbar zu sein und im Ergebnis die Erfüllung zu spüren. Im Bereich Design sagt der Auftraggeber nicht „das ist typisch für Peetz“ sondern „das ist typisch für exzellentes Design“. Wenn du das erste Bid Book und das zweite Bid Book anguckst, ist das Gestalterisch ein riesiger Unterschied. Das, was gleich bleibt, ist die Ausstrahlung einer hohen Präzision in der Schrift und eine einzigartige Finesse im Umgang mit der Aufgabe. Als Student habe ich immer gesagt: der Künstler erwartet Erfüllung, der Designer erfüllt Erwartungen. Na gut, heute sage ich eher „Erfüllung durch Übertreffen der Erwartungen“ … Stichwort biologische Laune.

Wie war das für dich, mit einem zweiten Fotografen an einem Projekt zu arbeiten?

MT – Ich habe davor bereits ein Buch gemacht, das thematisch ein bisschen ähnlich gelagert war, das hieß „Das andere Hannover“ und es waren nur meine Bilder drin. Dazu haben wir ebenfalls Interviews gemacht, also auch mit Worten gearbeitet. Das Buch hat sich super verkauft, aber ich mag keine Wiederholungen. Und ich mag Olafs Fotografie sehr gerne. Irgendwann habe ich ihn getroffen und gesagt: „Weißt du was, Olaf? Lass uns noch so ein Buch machen: du eine Hälfte und ich eine Hälfte“. So sind wir zusammengekommen. Der Austausch ist toll. Ich bin kein Architekturfotograf, bei mir ist es eher schwer einzutüten, was genau ich mache, weil ich unheimlich viel gerne mache. Ich versuche immer, Sachen so festzuhalten, wie sie vielleicht andere nicht sehen. Das ist mein Antrieb. Wie bei Sebastian: Es gibt den Marc Theiss mit Kunden und es gibt den freien Künstler in mir.

An was arbeitet ihr aktuell außerdem?

SP – Aktuell? Bei mir sind es neben Büchern ja auch Logos und Plakate. Wenn ich für Museen Ausstellungsplakate entwerfe, soll man ohne Ablenkung denken „ah, diese Ausstellung möchte ich sehen!“. Bei einem Logo ist es die Verdeutlichung der Idee, für die eine Einrichtung überhaupt steht. Welchen Drive, welche Identität vertritt der Absender. Konkret wird das am Museum Wilhelm Busch. Die neue Direktorin hat sich eine ganz kraftvolle neue Marke gewünscht, die ihre künftige Prägung des Museums deutlich macht. Sie kam zu mir ins Atelier und sagte „Ich brauche das neu, jung und divers. Und ich will eine direkte Assoziation mit dem Haus“. Also wird eine charakterstarke und wiedererkennbare Schrift benötigt und ein Logo, das den Namen und die DNA des Hauses wieder aufleben lässt. Und selbstsicher Zielgruppen vereint. Für sich selbst schon eine Geschichte sein könnte. Bei der Recherche schaute ich inzwischen nicht mehr zählbare Varianten lateinischer Buchstaben an. Und nach ein paar Tagen Genuss dieser Vielfalt entschied ich mich für die „Glance“ von Moritz Kleinsorge, der es geschafft hat mit smarten Designakzenten und feinen Details doch noch mal eine singuläre Schrift zu entwickeln. Für das Logo drehte ich die Buschstaben M, W, B so lange, bis ein liegendes B schließlich an eine stilisierte Silhouette der ikonischen Protagonisten Max und Moritz (letzer mit geölter Haartolle) erinnerte. Man erkennt es „at first glance“. So würdigt das inzwischen international aufgestellte Museum seinen historischen Namensgeber und schafft sich doch symbolstark einen augenzwinkernd-progressiven Platz auf den Säulen.

MT – Wir haben aus dem Projekt für das Annastift eine digitale Ausstellung mit Sebastian zusammengestellt und die wurde schon einmal ausgestellt hier im Rathaus in Hannover. Ich bin gerade noch dabei, andere Orte zu mobilisieren. Ich hoffe, es geht im Winter weiter. Ich selbst habe jetzt viel im Saarland fotografiert. Das Saarland hängt ja direkt neben Luxemburg. Luxemburg liegt zwischen Frankreich, Belgien, Rheinland-Pfalz und dem Saarland und das ist schon sehr interessant. Heute pendeln die Leute hin und her. Ich habe in Lothringen ein Internat besucht und heute ist es so, dass die jungen Leute das Drumherum nicht kennen, außer sie wohnen in Trier. Das ist total krass. Keiner weiß mehr, was es direkt nebenan für eine Geschichte gibt, was da überhaupt war, was da ist … an Architektur, Religion. Und ich reise, um solche Orte zu finden und den Leuten zu zeigen, was da passiert ist. Es gibt in Luxemburg nicht nur Banken, sondern auch viel Geschichte aus den letzten 100 Jahren. Und das gleiche will ich in Lothringen machen. Im November habe ich noch eine Ausstellung in Luxemburg: wieder ein ganz anderes Projekt, mit einem Künstler aus Düsseldorf, der auf Fotos von mir gemalt hat. Diese Ausstellung beginnt bald – und das sind alles Unikate.

Habt ihr zuletzt noch irgendetwas auf dem Herzen?

SP – Den Freundeskreis Hannover. Das ist kein unwichtiges Thema. Die Stadt Hannover hat als eine der ganz wenigen Städte überhaupt so einen Freundeskreis und ich betone immer, wie relevant es ist, dass Menschen sich ohne einen konkreten Auftrag für eine Stadt hilfsbereit im Detail engagieren und den Geist einer Stadt damit prägen und sichtbar machen. Marc Theiss und ich, wir sind beide ja nicht umsonst in Hannover. Ich war sieben Jahre in Paris, davor in Amerika, aber am Ende bin ich in Hannover. Warum? Das liegt an dem Kapillarsystem der Stadt, an diesem feinen Geäst von Energie und Menschen, die sich kennen, sich vernetzen, die unaufgeregt sind. Ich war gerade auf einer Veranstaltung in Hamburg. Alle bewegten sich enorm fotogen und sahen, ja „instagramable“ aus, und es fühlte sich an wie eine Novelle von Proust. Das ist in Hannover doch alles extrem angenehm gemittet – und so ein Freundeskreis ist eine Schleife um diese Mitte, diese verschiedenen Menschen und Interessen, die genug Raum lässt und trotzdem das Verbindende sichtbar macht. Für Hannovers andauerndes Bemühen, Kunst, Kultur, Wissenschaft und Politik erfreulich wirksam zu verbinden bin ich sehr dankbar.

MT – Und ich würde gerne noch einbringen, dass ich die Umwandlung der Innenstädte für ein ganz wichtiges Thema halte. Hannover hat ja ein bisschen das Problem, dass alles sehr weit auseinander liegt. Ich denke, dass es ein richtig großer und wichtiger Auftrag ist, den ich beim Freundeskreis, aber auch bei jedem Einzelnen sehe, dass wir mehr Kultur reinkriegen, die Innenstadt wieder mehr verbinden. Da gab es ja schon immer Ideen, aber da muss man viel Gas geben die nächsten Jahre. Wir können Hannover nur herzhaft machen oder bewerben, wenn wir dafür sorgen, dass für die Leute wieder alles etwas menschlicher wird, weg von diesen Massenketten. Man weiß ja manchmal nicht mehr, in welcher Stadt man ist, weil überall die gleichen Läden sind. Das kann es doch nicht sein auf Dauer. Ich bin mir sicher, dass die jungen Leute das auch so sehen. Hannover ist kompliziert: Wir punkten zwar mit ganz vielen tollen Sachen wie der Erreichbarkeit, wir können ganz schnell hin und her mit der Bahn und dem Fahrrad, aber wir müssen das Innendrin kulturell wirklich voranbringen. Und unser Auftrag, auch vom Freundeskreis, wird die nächsten Jahre sein, viel mehr verbindende Kultur in die Innenstadt zu bekommen. Und die Zielgruppe sind für mich einzig und allein die jungen Leute – denn die Zukunft sind die jungen Leute und nicht die alten.

CK

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Der Freundeskreis im Gespräch im Mai

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Der Freundeskreis im Gespräch im Mai


Diesen Monat haben wir mit Justin Hahn, Geschäftsführung im Pavillon, und Michael Lenzen, stellvertretender Geschäftsführer von Neues Land e.V., gesprochen – über die Situation zwischen Hauptbahnhof und Weiße-Kreuz-Platz sowie über die Pläne der Umgestaltung des Raschplatzes.

Wer seid ihr und was macht?

JH – Ich bin Justin Laura Hahn, 27 Jahre alt und bin in Hannover aufgewachsen, habe aber kurz auf dem Dorf gewohnt. Das war ganz entspannt. So ein bisschen Bauernhof-Feeling als Kind mitzubekommen, ist ganz schön. Dann sind wir aber zurück in die Stadt und ich habe immer ca. 500 Meter entfernt vom Pavillon gewohnt, habe mein Abi gemacht und mich 2014 für ein FSJ für Politik entschieden – und das auch schon im Pavillon. Mir wurde damit die Ausbildung zur Veranstaltungskauffrau mehr oder weniger vor die Füße gelegt. Das habe ich gemacht bis 2018. Ich hatte ein Stipendium von der IHK und entsprechend etwas Geld zur Verfügung für Weiterbildungen neben der Arbeit: erst eine Weiterbildung zur Wirtschaftsfachwirtin, jetzt zur Betriebswirtin. Und dann war Generationswechsel im Pavillon. Ich habe anfangs im Bereich Gesellschaft und Politik gearbeitet, Großprojekte betreut, viel zum Thema Inklusionsprojekte gemacht – bin dann aber so ein bisschen in der Verwaltung hängengeblieben. Dann war klar, dass mein alter Ausbilder, Till Strehlke, in Rente geht, und es gab die Aussicht, dass ich seine Stelle, die Verwaltungsleitung, übernehme – von der FSJlerin zur Verwaltungsleitung und Ausbilderin in so kurzer Zeit, das war schon ein super Angebot. Als schließlich auch klar war, dass unser Geschäftsführer, Christoph Sure, aufhört, haben wir einen umfangreichen Prozess gestartet und letztlich Verwaltungs- und Finanzleitung und Geschäftsführung zusammengelegt. Jetzt bin ich beides, seit 2022. Ich finde das klasse, weil wir als Doppelspitze arbeiten, also quasi die Verantwortung geteilt haben, und sowieso recht hierarchiearm arbeiten. Es ist schon eine Herausforderung in meinem Alter eine solche Stelle zu besetzen aber genau im Pavillon fühlt es sich richtig an.

ML – Ich bin Michael Lenzen, 51 Jahre jung, seit 30 Jahren in Hannover, komme aber aus dem Rheinland, aus Siegburg, und bin eigentlich auch auf dem Land groß geworden, auf einem Bauernhof. So zwischen 14 und 18 Jahren hatte ich eine heftige Zeit, was Alkohol und Drogen anging, bin aber durch einen Schulfreund in einen Jugendkreis gekommen, in dem niemand Drogen genommen oder Alkohol getrunken hat. Mich hat trotzdem seither die Frage beschäftigt, wie man Menschen helfen kann, die richtig tief abstürzen? Weil eben auch einer meiner besten Freunde heroinabhängig wurde … und auch einige andere. Darum habe ich mir einige Einrichtungen für den Zivildienst angeguckt und bin 1992 hier beim Neuen Land gelandet. Ich habe während des Dienstes gemerkt, wie hart und herausfordernd die Arbeit ist, habe aber danach den Impuls gehabt, nach einer Ausbildung zum Krankenpfleger, dass ich es wagen und weitermachen soll beim Neuen Land. Gute Entscheidung – ich habe meine Frau auf der Arbeit kennengelernt. Nebenbei habe ich hier an der Fachhochschule noch Soziale Arbeit studiert und die Immaturenprüfung gemacht. Ich habe Hannover bereits von vielen Seiten kennengelernt, die einem sonst eher verborgen bleiben. Ich hätte nie gedacht, dass 30 Jahre Neues Land e.V. daraus werden würden. Davon 21 Jahre im Auffanghaus, in der Clearingstation. Unsere drei Kinder sind auch dort geboren. Wir haben zwei leibliche Kinder und ein Pflegekind, das wir adoptiert haben, weil die Mutter drogenabhängig gewesen ist. Wir haben ein Stück unseres Lebens in der Oststadt, in der Clearingstation, mit den Patient*innen (wir nennen sie „Gäste“) geteilt, und unter einem Dach zusammen gewohnt. Dann haben wir 10 Jahre im Haus der Hoffnung in Ahlem gewohnt und sind jetzt vor zwei Wochen nach Amelith gezogen, unser Therapie- und Nachsorgezentrum. Ich habe noch die Ausbildung als Sozialtherapeut gemacht und gemerkt, dass das eine wertvolle Weiterbildung war. Seit 2011 bin ich nun auch im Vorstand. Wir sind dort zu dritt … insgesamt hat das Neue Land rund 80 haupt- und 70 ehrenamtliche Mitarbeiter an drei Standorten.

Du hast den Weißekreuzplatz und den Bahnhofsbereich angesprochen. Aktuell ist ja der Raschplatz ein großes Thema und wird oft als Problemzone oder Schmuddelecke bezeichnet. Ist das auch euer Eindruck? Wie würdet ihr die Situation beschreiben?

JH – Ich würde schon sagen, dass es Problematiken an diesen Plätzen gibt. Ich finde den Weißekreuzplatz nicht so heikel, wie immer dargestellt, aber gerade die Raschplatz-Unterführung zum Andreas-Hermes-Platz ist bedenklich und in den letzten fünf Jahren noch problematischer geworden. Das Sicherheitsgefühl fehlt dort, das zeigt sich etwa, wenn unsere Kolleg*innen abends Feierabend machen und sich beim Heimweg unwohl fühlen. Das ist schon schwieriger geworden. Und wir sind da ja so mittendrin. Wir sind gewollt ein offenes Haus – das werden wir auch nicht ändern, egal, wie sich die bahnhofsnahen Plätze entwickeln. Wir haben das offene Foyer und bei uns kann jeder reinkommen, sich aufwärmen, sich hinsetzen und das Internet und die Toiletten nutzen …

ML – Auf jeden Fall ist es um den Pavillon schmuddeliger geworden, aber der Raschplatz hat sich äußerlich gesehen zum Positiven verändert, wenn man bedenkt, wie der vor 10 oder 15 Jahren ausgesehen hat. Auch die Passerelle: Das hat durch die vielen Umbauten, die in den letzten fünf bis acht Jahren stattgefunden haben, ein anderes Erscheinungsbild. Aber die Stimmung hat sich verändert und es sind definitiv mehr Randgruppen und mehr Obdachlose in der Innenstadt. Ich finde es richtig, dass es um den Raschplatz viele Angebote für Obdachlose gibt, aber das bedeutet auch, dass Leute aus der Region hinzukommen. Und wir haben einen Zuwachs an Osteuropäern. Es ist also äußerlich schöner, aber innerlich weit angespannter.

JH – Und auch anonymer. Vor sechs, sieben Jahren kannte man die Leute, die da unten waren vom Sehen. Jetzt sind es viel mehr wechselnde Personen. Auch wir als Pavillon-Mitarbeitende kriegen das mit. Früher kannte man seine Platznachbar*innen und hat ihnen mal Kaffee angeboten oder hinten auf dem Parkplatz gequatscht. Da war die Aggressivität noch nicht so hoch. Es ist heute schwierig für uns, damit umzugehen, weil wir niemanden ausschließen wollen. Da ist dann einerseits dieses Unbehagen der Kolleg*innen und andererseits wollen wir nicht auf diese Schiene: „Brauchen wir einen kommunalen Ordnungsdienst?“

Obdachlose und Drogenabhängige sollten Hilfe bekommen, da sind sich alle einig, zugleich scheint es aber doch so, dass man sagt: „Bitte möglichst nicht vor meiner Haustür.“ Spielt dieser Zwiespalt in das Unbehagen hinein, die Thematik anzusprechen?

ML – Ich finde, es ist nach wie vor eine Herausforderung. Ich gehe ja durch die Stadt und bin Privatperson und Neues Land gleichzeitig. Und es ist heute echt schwer hier, weil du diese Masse vorfindest. Wie gehst du damit um? Ich habe mich gefreut, als vor zwei, drei Jahren der Aufschrei kam und die Medien davon voll waren: „Was geschieht mit dem Raschplatz?“ und „Es gibt viel zu wenig Einrichtungen.“ Und Privatpersonen haben gesagt: „Dann tun wir was.“ Es gab diese Einzelpersonenhilfen. Das ist der Umkehrschluss: Wenn das Gefühl da ist, es geschieht nicht genug, denkt man als Privatperson nochmal mehr nach.

Ist das so die Tendenz? Ist die Hilfsbereitschaft gestiegen? Man könnte ja auch vermuten, dass die Leute eher aus Selbstschutz dicht machen und sich noch mehr weggucken als früher.

ML – Ich erlebe Hannover, auch als Spiegelbild für Deutschland, sehr zerrissen. Die Hilfsbereitschaft ist gestiegen, definitiv, aber auch die Polarisierung. Und wenn du dir die Stadtteile anguckst: In dem einen „Herzlich willkommen“, in einem anderen „Bleibt mir vom Leib“.

Für das Konzept mit dem Volleyballfeld gab es viel Spott und Häme …

JH – Nochmals Energie reinzustecken in die Plätze, finde ich super. Da liegt auch viel Potenzial. Jetzt aber einfach irgendwas draufzusetzen, bedeutet, dass das Klientel vor Ort weggedacht wird. Mehrere Punkte finde ich problematisch: Erstens, dass es für jeden Platz ein eigenes Gremium gibt. Es gibt eine Gruppe zum Raschplatz, eine zum Andreas-Hermes-Platz, eine zum Weißekreuzplatz. Diese Gruppen sind nicht sehr beteiligungsorientiert. Mir fehlt ein Gesamtkonzept. Die Verbindung von Lister Meile und Innenstadt muss einfach zusammen gedacht werden. Was auch fehlt, ist die Einbindung der Hilfseinrichtungen vor Ort. Und mit den Leuten vor Ort wird nicht gesprochen. Es gab eine HAZ-Umfrage, was „die Szene“ von den Plänen hält. Die Umfrage wurde aber vor dem Hauptbahnhof durchgeführt, wo die Punks sitzen, ein ganz anderes Klientel. Ich finde es auf der anderen Seite gut, dass darüber nachgedacht wird, am Andreas-Hermes-Platz einen Lesegarten einzurichten, oder den Weißekreuzplatz so herzurichten, dass da ein Spielplatz entsteht. Das ist für uns als Pavillon gut, weil wir den Platz besser nutzen können, beim Masala-Weltmarkt oder beim Klatschmohnfestival. Solche Investitionen finden wir super, aber die Personen vor Ort müssen zur Mitarbeit eingeladen werden, sie müssen das mitgestalten. Und es gab diese Pläne. Es gab eine Arbeitsgruppe zum Andreas-Hermes-Platz rund um Transition Town. Die haben sich überlegt, was man mit dem Brunnen macht, wie man ein Beteiligungsprojekt mit den Menschen dort hinbekommt – das wurde aber nicht gehört.

ML – Dreh- und Angelpunkt für mich oder für uns als Neues Land ist Streetwork. Diese vier Stellen, die zusätzlich hinzukommen sollen. Es geht ja darum, keine Verdrängungspolitik zu betreiben, sondern für die Leute da zu sein. Entsprechend ist unterstützenswert, was angedacht ist. Wir haben eigentlich seit vier, fünf Jahren eine tolle Entwicklung in Hannover, weil Wohnungslosen- und Suchthilfe näher zusammengerückt sind. Das haben wir vor allem unseren Sucht- und Drogenbeauftragten zu verdanken, aber auch anderen Helfer*innen. Es gibt schon lange nicht mehr den klassischen Drogenabhängigen und den klassischen Obdachlosen, sondern wir haben ein buntes Sammelsurium. Dem wird man nur gerecht, wenn die unterschiedlichen Hilfestränge enger zusammenrücken. Das ist meines Erachtens schon gut geschehen, auch, wenn natürlich in Arbeitskreisen etc. noch mehr Vernetzung möglich ist. Aber es war eben auch ein großer Aufschrei bei den Suchthilfeeinrichtungen nötig. Wir als Neues Land haben ebenfalls eine Stellungnahme geschrieben, da Suchthilfeeinrichtungen in diesen Prozess nicht miteinbezogen wurden. Und es ist nach wie vor eine Gefahr, dass das, was sich in den vergangenen Jahren aufgebaut hat an Miteinander, von der Stadt wieder ausgebremst wird. Reine Verdrängung wird es nicht bringen. Das haben wir ja schon seit 30 Jahren, dieses Szene-Hopping …

Denkt ihr, dass eine Verdrängung angestrebt wird, weil der Bahnhof für Besucher*innen eine einladende Fassade bieten soll?

JH – Ich würde schon sagen, dass das auch ein Grund ist. Es sieht einfach nicht schön aus, wenn man hinten aus dem Hauptbahnhof rauskommt. Und wenn man sich überlegt, wo das Mecki hinziehen soll … Ich glaube schon, dass das Image-Aufpolierung ist. Und Verdrängung scheint da Mittel zum Zweck zu sein.

ML – Vor Lidl am Raschplatz muss was passieren, denn es ist ein Unterschied, ob sich dort ein paar Leute aufhalten oder ob es wirklich viele sind, sodass Passanten vertrieben werden. Deswegen ist es folgerichtig, dass es eine gewisse Verdrängungspolitik geben muss. Und wenn wir Hand in Hand arbeiten, dass Einrichtungen sich auch so zuarbeiten mit ihren Öffnungszeiten, dass man nicht an einem Ort verharrt, sondern letztlich auch die Hilfseinrichtungen so auseinander sind, dass man eben in Bewegung ist und sich keine so großen Ansammlungen bilden, dann macht das gepaart damit, dass man die Plätze verändert, Sinn. Aber allein darauf zu setzen, dass da Leute Volleyball spielen und die anderen verdrängt werden, ist zu kurz gedacht.

JH – Auf dem Weißekreuzplatz, muss man dazusagen, gibt es ja auch das Schwarmkunst Konzept panta rhei, bei dem schon innerhalb der Drucksache die Beteiligung der Szene vor Ort mitgedacht ist. Ich glaube, es kommt jetzt wieder darauf an, dass Akteur*innen wie wir als Pavillon, aber auch andere Kunst- und Kulturschaffende, dafür sorgen, Angebote zu schaffen. Dafür braucht es natürlich etwas Geld …

ML – Ich sage mal etwas provokativ, es hat damit zu tun, wie weit man will, dass Randgruppen weiterhin eine soziale Teilhabe in der Stadt haben. Die ganzen dezentralen Projekte, wo man nachts schlafen und sich auch tagsüber aufhalten konnte, sind in meinen Augen teils sehr hoffnungslose Orte: quasi Endstationen. Das ist nichts, um noch am Leben zu partizipieren und zu merken, sie sind in der Innenstadt noch gewollt – auch, wenn bestimmte Punkte nicht in Ordnung sind und man umdenken muss. Das ist ja eine Diskrepanz und die gilt es zum Teil auch mit ihnen zu besprechen.

JH – Ja. Und wenn wir den Masala-Weltmarkt machen, dann tanzt die Szene vorne in der ersten Reihe mit. Das muss man einfach mitdenken und die Besucher*innen entsprechend damit konfrontieren, dass das so in Ordnung ist, solange sich alle benehmen.

 

CK

 

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Der Freundeskreis im Gespräch im April

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Der Freundeskreis im Gespräch im April


Diesen Monat sprechen wir mit dem selbstständigen Kommunikationsdesigner Christoph Jahn und Paulina Ancira, der Motion Designerin an einer hiesigen Werbeagentur, über die Arbeit von Designer*innen, die Vorzüge und Herausforderungen des Berufes sowie über seine Außenwahrnehmung.

Stellt euch doch beide einmal vor …

Paulina Ancira

PA – Ich bin Paulina Ancira und habe Visuelle Kommunikation studiert, was so wie Grafikdesign ist – der einzige Unterschied ist, dass Visuelle Kommunikation auch noch Interaktive Medien und Bewegtbild mit einschließt. Aktuell bin ich Motion Designerin bei creativteam.communications, einer Werbeagentur hier in Hannover. Außerdem bin ich ehrenamtliche Grafikerin beim Freundeskreis Hannover. Meine Mutter ist auch Grafikdesignerin gewesen … und seit ich klein bin, habe ich immer gerne gezeichnet und hatte dann den Vorteil, dass ich wusste, das man das beruflich machen kann.

Christoph Jahn

CJ – Den Vorteil hatte ich nicht. Ich komme aus einer Familie, da laufen unheimlich viele andere Berufe rum. Da hätte ich z. B. auch Jura studieren können, aber das war mir dann zu langweilig. Ich wollte das auch schon nach dem Abitur machen: einfach etwas anderes mit Design oder so … Ich habe dann den einfachen Weg gewählt und ein Studium begonnen – und auch abgebrochen. Dann habe ich eine Berufsausbildung zum Mediengestalter gemacht, was jetzt 23 Jahre her ist. Und seit knapp 18 Jahren betreibe ich mein eigenes Büro.

Man findet ja Begriffe wie Grafikdesign, Mediendesign, Kommunikationsdesign gleichermaßen, wobei ja Kommunikationsdesign und Grafikdesign nahezu identisch sein sollen. Das ist mitunter recht verwirrend …

CJ – Das ist schon sehr unterschiedlich. Es ist ja auch kein geschützter Begriff. Jeder darf sich Designer nennen. Gerade bei Stellenausschreibungen findest du locker 20 Begriffe, wobei unklar ist, was du können solltest. Ich bezeichne mich gerne als Kommunikationsdesigner, weil Grafik das nicht so ganz umschreibt. Ich glaube aber, es gibt 1.000 Berufsbezeichnungen und alle meinen das gleiche.

PA – Es ist insgesamt ein Problem, dass die Menschen nicht so recht wissen, wie man das benennen soll. In meiner Uni gab es zwei Studiengänge: Visuelle Kommunikation und Mediendesign. Und Mediendesign ging schon mehr in die Richtung Animation, aber auch mehr für Film … Visuelle Kommunikation betrifft eher Plakate, Buchgestaltung. Bei Stellenausschreibungen steht dann aber mitunter Mediendesigner*in – eigentlich brauchen sie aber jemanden, der Werbung macht. Das machen aber nicht die Menschen, die sich komplett auf Animationen ausgerichtet haben.

CJ – Ich habe mich entschieden, meinem Büro den Namen „Gebrauchsgrafik“ zu geben. Das ist der alte Begriff für Kommunikationsdesigner gewesen. Also ein Kunde kommt zu mir und sagt „Ich hätte gerne das so und so“ oder „Ich habe ein Problem, das hätte ich gerne gelöst“. Kundenansprache, Kundenkommunikation – das kann man auch gar nicht so pauschal sagen, das ist auch immer unterschiedlich. Wobei ich eigentlich ursprünglich aus dem Druck komme. Ich habe ganz viel Druckgrafik gelernt. Letztendlich mache ich Digitales aber auch, weil du es einfach machen musst und es auch Spaß macht.

Was sind denn so eure Standard-Handwerksmittel, die zum Einsatz kommen?

PA – Also standardmäßig benutzt man die Adobe-Suite und da so fast alle Programme … Photoshop, Illustrator, InDesign.

CJ – Bei mir ist es das gleiche. Also letztendlich ist Adobe der Marktführer.

Auch um 2000 rum, als du angefangen hast?

CJ – Ne, da war Adobe noch nicht in allen Bereichen so präsent wie jetzt. Für Satztechnik hast du eigentlich QuarkXPress genommen. Die gab es einfach vorher und die waren auch mehr angesagt. Und statt Illustrator gab es Freehand. Da du jetzt aber einfach die Creative-Suite von Adobe buchst und dann alle Programme hast, macht es keinen Sinn, noch ein zweites Programm zu kaufen. Mein wichtigstes Programm ist letztendlich InDesign, weil ich am meisten noch für den Druck tätig bin.

Ist es mit den technischen Entwicklungen, die es da so gegeben hat, einfacher geworden? Oder auch etwas komplizierter?

CJ – Anders. Der Kunde ist ja der gleiche geblieben. Klar, früher gab es manche Sachen nicht, die es heute gibt – und das hast du gar nicht infrage gestellt. Und es sind ja ganz viele Berufe weggefallen: Früher gab es ja den Lithografen und den, der den Film belichtet hat. Die ganzen Firmen gibt es gar nicht mehr. Und das ist schon einfacher geworden, weil heutzutage mehr möglich ist.

Wo du gerade den Kunden erwähnst: Wie ist das mit Kundengesprächen? Manche Designer*innen, beschreiben das als langwierigen Prozess mit viel Rumgeeiere, bei dem man irgendwie erraten muss, was der Kunde möchte …

PA – Also auf jeden Fall glaube ich, dass man ganz viel Erfahrung dabei sammeln kann. Ich habe keinen direkten Kontakt mit der Kundschaft, erfahre aber durch die Manager, was der Kunde zu dem, was ich gemacht habe, gesagt hat. Das ist mitunter schwierig, denn die Kund*innen wissen manchmal noch gar nicht, was sie wollen. Sie kommen etwa mit einer Anfrage und sagen, sie hätten gerne „etwas wie dieses Bild“ – wollen aber im Grunde ganz genau dieses Bild.

CJ – Das gibt’s immer. Und du kannst ja nicht einfach ein Bild kopieren, so nach dem Motto „Ich hätte gern die Werbung von dem“. Manche Kund*innen haben auch nicht die Vorstellungskraft, was es bedeutet, wenn sie was sagen: „Ich hätte gerne das – aber anders“. Anders kann ja 1.000 Varianten sein.

Sind solche Missverständnisse störende Fehler, die eigentlich nicht sein sollten? Oder sagt man sich eher: Das ist Teil das Geschäfts und gehört dazu … es geht darum, so lange rumzukreisen, bis man sich dann gefunden hat …

CJ – Dafür ist man ja selbst verantwortlich. Kein Kunde kennt alle Fachbegriffe, weil die einfach nicht Teil seines Alltags sind. Es kann manchmal ein bisschen nervig sein, wenn du etwas das 300. Mal erklärst – aber das musst du halt machen, weil das keiner weiß. Woher denn auch? „Ist ein Handybild druckbar?“ Klar, dann musst du dem erklären „Per se ist das druckbar, aber nicht so, wie es in der Kamera ist.“ Das musst du erst einmal erklären.

Ich bin schon häufiger darüber gestolpert, dass Designer*innen vorgehalten wird, Werbung und Manipulation zu betreiben. Seid ihr mit solchen Vorwürfen konfrontiert, dass ihr zwecks besserer kommerzieller Verwertbarkeit etwas aufhübschen oder verfälschen würdet?

PA – Also es gibt, glaube ich, neue Bewegungen, die sagen, dass Design automatisch Haltung ist. Nach dieser Bewegung sollte man immer bewusst entscheiden, wofür man etwas macht. Aber ich finde es ein bisschen schwer, das jedes Mal zu bedenken, weil man sich als Designer*in zwar darüber Gedanken machen kann, aber ich bekomme z. B. die Aufträge von der Agentur. Man soll sich schon Gedanken machen, was man mit seiner Arbeit macht – aber es gibt eben Levels dabei. Da gibt es Menschen, die das sehr extrem sehen.

CJ – Also ich mache ja eigentlich gar nicht so sehr Werbung. Du kannst ja auch Formulare für eine Versicherung machen. Aber klar: Du musst gucken, wer bei dir bestellt. Denn dem verhilfst du dazu, sich besser darzustellen. Du lässt ja wen attraktiv erscheinen. Du kannst eine Mini-Firma riesig erscheinen lassen. Das ist ja immer auch das, was der Kunde gerne möchte. Bei Werbung weißt du ja eigentlich, dass die Leute da geschummelt haben, dass Werbung lügt. Auch deshalb sage ich vielleicht manchmal ganz gerne: „Ich mache keine Werbung, sondern Gebrauchsgrafik“. Da wird mit Sicherheit auch noch mehr drauf zu kommen sein: Im Moment sind ja AI-Prozesse sehr im Gespräch … Letztlich ist das eine Frage, wie du dich selber siehst; aber auch eine Frage des Geldes.

À propos AI: Wie blickt ihr in die Zukunft? Macht ihr euch Gedanken, dass es jetzt ganz schnell gehen könnte mit der technischen Entwicklung und man aussortiert werden könnte?

CJ – Also, das ist, finde ich, nichts Neues. Es ist halt gerade populär, darüber zu sprechen. Mit Sicherheit wird ein Teil meiner Arbeit oder unserer Arbeit irgendwann ersetzt werden. Vielleicht bist du dann nur noch Berater oder der, der dann das Programm füttert. Aber wenn der Kunde jetzt nicht weiß, was er möchte, dann wird er das auch in 30 Jahren nicht wissen. So toll auch die Technik dahinter ist, das Ergebnis wird nicht besser, aber anders.

PA – Ich würde mich da anschließen. Bei freien Künstler*innen kann ich die Sorge aber auch sehr verstehen, weil deren Styles teilweise kopiert werden, was nicht fair ist. Aber als Designerin glaube ich, dass die AI noch nicht so weit ist. Manche Bekannte von mir benutzen Teile von diesen AI-Programmen, um ihre Grafiken zu verbessern. Sie machen am Ende das Design, aber nutzen solche Programme als Tool. Man muss nur vorsichtig sein, denn mit gewissen Informationen gefüttert, werden auch problematische Ergebnisse für bestimmte Begriffe geliefert, sodass die Bilder, die rauskommen, teilweise rassistisch sind bzw. eine gewisse Weltanschauung widerspiegeln. Ob das nun an denjenigen liegt, die das programmiert haben, oder daran, dass die Mehrheit der Bilder, die sich im Internet befinden, auch so sind …

CJ – Es gibt leider viele Rassisten auf der Welt und die sorgen auch für viele Fotos im Internet. Aber für Künstler*innen ist das schon echt hart, denn diese Tools für Bildgenerierung sind ja eher Kunst und nicht Grafikdesign. Für Grafikdesign ist das nur ein anderes Tool irgendwann und da finde ich es spannend, dass man das nutzen kann. Wenn du Photoshop anguckst: Ich habe angefangen mit Photoshop 3.0 – und wenn du siehst, was Photoshop jetzt kann, ist das ja komplett anders. Ich müsste ja sonst sagen: „Ich kann nur Grafikdesign machen, wenn ich Photoshop 3.0 benutze, denn da muss ich noch mein ganzes Handwerk können.“ Jetzt klicke ich für manche Aktionen bei Photoshop einmal auf einen Button und das macht den ganzen Rest.

Wenn ihr gerade von Künstler*innen sprecht: Wie würdet ihr die Frage nach Kreativität in eurem Beruf bewerten? Waltet da eher Kreativität, eher Monotonie? Als Künstler seht ihr euch ja offenbar nicht …

CJ – Ne. Ich mache Handwerk, würde ich eher sagen: schon kreatives Handwerk, aber Handwerk. Ich wüsste jetzt gar nicht, wie viel Kreativität das bedeutet. 60 % meiner Arbeit kann ich verkaufen, dann darf ich mich noch mit dem Finanzamt unterhalten, mit allen Verwaltungssachen. Das hast du nicht.

PA – Das stimmt, ja. Ich finde, man sollte schon kreativ sein, um Design machen zu können. Aber es ist auf jeden Fall anders als bei Künstler*innen, weil man beim Design immer ein Briefing bekommt; es gibt gewisse Dinge, an die man sich halten muss. Das ist für mich wie ein guter Leitfaden. Im Studium haben wir eher freiere Aufgaben bekommen: etwa, ein Buch zu gestalten – Thema und Gestaltung waren frei. Das war teilweise schön, weil man alles machen konnte – aber es war zum Teil auch anstrengend, weil man nicht wusste, wo man anfangen sollte. Das habe ich jetzt im normalen Alltag nicht mehr so, weil ich einen festeren Rahmen habe, an den ich mich halten muss.

CJ – Ganz freie Arbeiten sind echt schwierig. Es gibt durchaus Kunden, die sagen „Mach mal was“. Mit was fängst du an und was kannst du dann am Ende auch vermitteln? Andererseits finde ich es auch ganz schwierig, wenn der Kunde schon ganz krasse Vorstellungen hat und die dann aber blöd sind. Das ist dann auch eher unkreativ, weil es dann wirklich reines Abarbeiten ist.

PA – Das ist auch sehr anstrengend. Wenn die Kunden etwas Genaues wollen und man ihnen dann nicht unbedingt vermitteln kann, warum das nicht so gut funktionieren wird – und sie es dann eben trotzdem wollen.

CJ – Ja, sie gehen zum Fachmann, wollen aber dessen Meinung nicht akzeptieren. Dass du aus einem bestimmten Grund etwas machst, das sehen die manchmal nicht. Da ist das Foto und dann kommt das und das aus einem bestimmten Grund … die Blickrichtung oder so. Du kannst das alles begründen, aber das wollen diese Personen leider nicht hören. Das ist so ein bisschen das Vorurteil: Ich mache nur was schön. Aber dass da auch was dahinter steht, dass das ein Handwerk ist, in dem du der Fachmann bist, das sehen viele gar nicht.

PA – Auch ganz schwierig ist es, wenn man zwei Konzepte für ein Projekt entwickelt, mit zwei verschiedenen Ansätzen. Dann zeigt man das dem Kunden und dann heißt es: „Ich mag von dem einen Entwurf das und von dem anderen Entwurf das. Können wir die miteinander verheiraten?“ Man hat sich ja extra Gedanken gemacht – und dann muss man beide Ideen miteinander vermischen, was ja gar nicht der Plan war.

CJ – Ne, das war manchmal so gar nicht gedacht. Da stellt man sich, glaube ich, manchmal selber das Bein.

Wenn ich jetzt einen einfachen Text nehme und ändere da was an den Abständen, ziehe die entweder sehr groß auf oder halte sie ganz eng, dann kann ich ja wirklich ins Extrem gehen und man hat am Ende auf jeden Fall Probleme damit als Leser*in. Es gibt aber wahrscheinlich auch einen Bereich, wo man sagen würde, dass man das durchaus noch lesen kann, aber wo du jetzt vermutlich bereits sagen würdest, so unterschwellig ist es wahrscheinlich eher suboptimal …

CJ – Da mache ich bei mir aber eine ganz große Unterscheidung. Am Anfang darf der Kunde auf jeden Fall noch mitreden, wenn er darauf besteht, dass es die Farbe ist oder sowas. Zur Lesbarkeit sagt mir der Kunde dann meist: „Ich habe die und die Kunden.“ Für jemanden mit einem Kundenstamm um 65+ musst du den Textsatz anders machen, weil da fast jede*r eine Lesebrille hat. Da lasse ich mir auch heutzutage nicht mehr reinreden. Im Gegensatz: Wer hat sich denn früher Mal die AGBs auf Briefbögen durchgelesen? Du kannst ja auch Texte absichtlich unleserlich halten. Ich finde das immer gruselig, wenn du etwas findest und das nicht lesen kannst.

Wenn sich jetzt jemand denkt: „Ja, Grafikdesigner*in könnte ich mir vorstellen …“ Was wäre da so euer Rat? Was gibt es da so für große Pluspunkte? Was kann Spaß machen? Was muss man mitbringen? Und was ist eher unschön?

PA – Also, ich finde es schön, dass jeder, der Designer ist, das macht, weil er es möchte. Wenn man mit Designer*innen spricht, weiß man, dass die Person sich auch wirklich für Gestaltung interessiert. Was ich nicht so schön finde, ist, dass manche Menschen, die nicht Gestalter sind, sich als solche sehen – die das nicht so wertschätzen, weil sie denken, sie können das einfach so mit Canva machen: weil das doch jeder könne.

CJ – Du musst schon Leidenschaft dafür haben und das gerne machen. Ich kenne auch keinen, der nicht auch früher schon gerne gezeichnet oder sich für Kunst und Design interessiert hat. Mann kann kreativ arbeiten und jeder Kunde ist anders, jedes Projekt ist anders: Du machst nicht immer das gleiche. Und wenn ich mir bei Pinterest Designs angucke, ist das Arbeit: Ich lasse mich inspirieren oder recherchiere.

PA – Man befasst sich damit nicht nur in der Zeit, in der man arbeitet.

CJ – Genau, das ist gleichzeitig Arbeit und auch privat das Hobby. Das ist alles gleich.

 

CK

CJ:
www.gebrauch-grafik.de
Instagram: @denkinhalt

PA:
Instagram:
@paulina_ancira

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Der Freundeskreis im Gespräch im März

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Der Freundeskreis im Gespräch im März


Diesen Monat sprechen wir mit Toren Grothe (TG), dem Vorstandsvorsitzenden der Mecklenburgischen Versicherung, und Björn Steiner (BS) aus dem Vorstand des Brainhouse247 über die Zukunft der Arbeit, alternative Arbeitsweisen und Work-Life-Balance. Beide sind Mitglieder des Freundeskreis e.V.

Lasst uns damit beginnen, dass ihr euch vorstellt: Wer seid ihr und was macht ihr?

Toren Grothe

TG – Mein Name ist Toren Grothe, ich bin 49 Jahre alt und Vorstandsvorsitzender der Mecklenburgischen Versicherungsgruppe, die hier in Hannover ansässig ist. Ich bin der 12. Vorstandsvorsitzende in einer 225-jährigen Geschichte. Von Haus aus bin ich Versicherungskaufmann, habe anschließend Wirtschaftswissenschaften hier in Hannover studiert und bin seit 20 Jahren im Unternehmen tätig. 2016 bin ich schließlich in den Vorstand berufen worden und 2021 Vorstandsvorsitzender geworden. Meine wichtigste Aufgabe ist es, dieses traditionelle und historisch geprägtes Haus fit für die Zukunft zu machen und zu zeigen, dass Versicherung nicht langweilig und angestaubt ist. Eine großartige Aufgabe, für die ich sehr dankbar bin.

À propos „angestaubt“: Wenn man sich die Werbespots von Versicherungen ansieht, überwiegt ein recht konservatives und traditionelles Bild von Familie, von Geschlechterrollen … Beruft man sich da nicht auch auf Tradition und Beständigkeit?

TG – Versicherungen sollten Sicherheit ausstrahlen und entsprechend wird Tradition im Marketing natürlich gerne aufgegriffen. Das eine oder andere ist selbstverständlich veraltet, aber dennoch etwas, wodurch eine gute Verbindung zum Thema Sicherheit hergestellt werden kann. Als Versicherungsgesellschaft ist man allerdings auch ein Stück weit dazu aufgefordert, sich über das Marketing immer wieder neu zu erfinden.

Kommen wir zu dir …

Björn Steiner

BS – Mein Name ist Björn Steiner, ich bin auch 49 Jahre alt und komme aus Stuttgart. Ich habe Kommunikationswissenschaften studiert, bin aber erst einmal in eine komplett andere Branche abgedriftet und habe eine Zeit lang Clubs betrieben. Zwischenzeitig war ich in Amerika, habe dort als Brandmanager ein Modelabel mit aufgebaut und anschließend in Deutschland einige Influencer und Stars gemanagt. Bevor ich zu BRAINHOUSE247 kam, war ich mit Herrn Arweck, dem ehemaligen Kommunikationschef von Porsche, in der Markenberatung tätig; vor allem für Marken, die sich schwer tun, aus dem Analogen ins Digitale zu kommen. Das digitale Erscheinungsbild einer Person, ihre Marke, ihre Reichweite, wird mindestens so wichtig sein wie die Performance. Mit dem Grundgedanken habe ich immer neue Konzepte entwickelt. Und Herr Panzer, ein erfolgreicher Immobilienentwickler, kam auf mich zu und sagte, er wolle gemeinsam mit mir ein Betriebssystem für Immobilien schaffen, das die Zukunft des Arbeitens verändert. Mit einem innovativen ganzheitlichen Konzept innerhalb von Gebäuden wollte er verhindern, dass Gebäude, die heute noch super sind, morgen schon an Wert verlieren. Und dann hat er mir das alte Siemens-Gebäude in Laatzen, dieses 18.000m²-Monster, gezeigt. Wir haben uns anschließend mit Experten aus Gesundheit, Digitalisierung, Technologie zusammengesetzt und das Konzept feingliederig weiterentwickelt. So war ich anfangs beratend bei BRAINHOUSE247 tätig und wurde schließlich in den Vorstand aufgenommen, um für die operative Geschichte verantwortlich zu sein und diese Welt zu kreieren.

Inwiefern soll Brainhouse247 die Arbeit verändern?

BS – Durch den Ort, die Services und die DNA sollen Arbeitnehmer positiv gestimmt sein, Arbeit anders wahrzunehmen, neue Möglichkeiten zu entdecken und sich frei zu entfalten. Wir wollten von Anfang an einen Ort schaffen, an dem der Mensch im Mittelpunkt steht und mehrere Möglichkeiten zur freien persönlichen Entfaltung hat. Kindererziehung, Standorterreichbarkeit, Öffnungszeiten – alle Hemmschwellen reduzieren wir auf ein Minimum. Die DNA besteht aus Lernen, Begegnungen und Gesundheit. Wir haben Services wie 24/7-Öffnungszeiten, eine fußläufig erreichbare Kita, Carsharing, Gastronomie, ein eigenes Gesundheitszentrum, ein E-Sports-Zentrum, einen Maker-Space, eine eigene Poststelle, einen IT-Support, ein Eventcenter und Fitnessstudios. Alles ist so konzipiert, dass es zu unserer DNA beiträgt. Und die Mitgliedschaft kostet dann einen gewissen Preis – 500 Euro –, wobei aber die Mitglieder einen solchen Mehrwert erfahren werden, dass wir glauben, dass sie gar nicht mehr im traditionellen Alltag arbeiten möchten. 95 % der Firmen haben laut Umfragen aktuell hauptsächlich Themen wie ihr Kerngeschäft auf der Agenda. Wir nehmen diesen 95 % viel ab, indem wir uns ergänzend um das Wohlbefinden der Mitarbeiter bemühen.

TG – Das sind einige Punkte, die für Arbeitgeber wirklich interessant und attraktiv sind. Zum einen ist es der Punkt, Arbeitsmöglichkeiten anzubieten, die man im Zweifel im eigenen Unternehmen auf diese Art und Weise gar nicht darstellen kann. Selbst, wenn man es wollte, ist man mit den eigenen räumlichen Gegebenheiten eingeengter. Außerdem ist es wichtig, zu versuchen, die Bindung der Mitarbeitenden zum Unternehmen bei allen flexiblen Möglichkeiten, die es aufgrund von Corona inzwischen gibt, aufrecht zu erhalten. Das bestimmt auch die Attraktivität als Arbeitgeber. Es reicht nicht mehr, nur Präsenz in Social Media zu zeigen; Unternehmen brauchen eine eigene Identität. Dabei geht es unter anderem um Familienfreundlichkeit und darum, dass man das dann nicht nur auf einen Flyer schreibt, sondern die Menschen auch spüren lässt, was das Unternehmen mit „familienfreundlich“ meint. Das hat unglaublich viele Facetten und je mehr Möglichkeiten ein Unternehmen hat, solche Angebote zu unterbreiten, desto besser kommt es an.

BS – Wir haben z. B. ein Gesundheitszentrum mit einem Ärzteteam, in dem wir einen ganz neuen Ansatz fahren: präventive Gesundheit, Vorsorgeuntersuchungen und Check-ups … Wir möchten zeigen, dass der, der früher vielleicht ein paar Tage krank gewesen ist, durch aktives, präventives Gesundheitsmanagement – wir reden auch über mentale Programme – allgemein fitter ist. Ein weiterer Aspekt der DNA ist das Lernen. Das Thema „berufliche Weiterentwicklung“ ist für immer mehr Menschen interessant. Wir haben ein Weiterbildungszentrum, in dem sich die Mitarbeiter selbst weiterentwickeln. Wir werden jede Woche einen eigenen Speaker-Circle mit Experten, Talenten und Keynote-Speakern bilden. So wird es einmal in der Woche einen Speaker-Tag zum Thema Gesundheit, Politik, Kultur oder Technologie geben. Und dann haben wir den dritten Punkt: Begegnungen. Die Isolation hat vielen nicht gut getan, sodass wir gesagt haben, der Ort muss Begegnungen protegieren. Wir haben zwei verschiedene Arten, wie wir die Menschen im BRAINHOUSE247 miteinander vernetzen. Es gibt ein Buddy-System. Das sind die guten Seelen des Hauses, zu denen ich gehen kann, wenn ich privat im Haus ein Potenzial sehe, aber vielleicht eine Hemmschwelle wegen zwei Jahren in Isolation besteht. In solchen Momenten hilft der Buddy. Außerdem haben wir den Connection-Master, der die Menschen im Haus aktiv vernetzt. Man meldet sich dort an und sucht z. B. jemanden, der sich mit Marketing und Vertrieb auskennt. Über den Connection-Master kann ich Experten finden, die mich in diesen Bereichen unterstützen.

Gab es bestimmte Vorbilder?

BS – Nein, wir sind tatsächlich – und das war das Schöne an dem Projekt – völlig unbelastet da rein und durften komplett frei gestalten. Unser Unternehmensinhaber hat uns in dem Punkt vollkommen vertraut. Deutschland hat doch eine ziemlich negative Einstellung zum Thema Arbeiten. Daran haben wir uns orientiert und bei der Entwicklung herausgefunden, dass wir auf keinen Fall auf die Ebene mit einem Coworking gestellt werden wollen. Wir wollten etwas schaffen, wo die Menschen Part einer Community sind und gefördert werden. Bei uns im Haus haben wir überall Leute, auch Etagenmanager, die danach schauen, wie es den Menschen geht und was sie brauchen. Sich wohlzufühlen und wertgeschätzt zu werden, ist wichtig.

Ihr seid euch ja einig, dass Arbeitgeber*innen den Arbeitnehmer*innen etwas bieten müssen. Es gibt ja zwei Sichtweisen: Nach der einen hat heute die Arbeitgeberseite die Probezeit und Arbeitnehmer*innen entscheiden, ob sie bleiben wollen. Es gibt aber auch die kritische Sicht, dass sich diese ganzen Freiheiten, flexible Öffnungszeiten oder unbegrenzte Urlaubstage etc., zu Ungunsten der Arbeitnehmerseite auswirken. Wie blickt ihr darauf?

BS – Ich glaube, dass viele Themen gerade noch sortiert werden müssen. Einerseits kommt die Frage auf, ob weniger gearbeitet wird, wenn Leben und Arbeiten verbunden wird. Wir befinden uns auf einem Weg, auf dem der Arbeitgeber seinen Mitarbeitern immer mehr vertrauen muss. Es hat sich herausgestellt, dass die Produktivität unter Corona nicht gelitten hat, dass es aber ein deutlich höheres Stressaufkommen gab. Ich glaube, dass das Vertrauen, das infolge des Home Office aufgekommen ist, die Produktivität steigert: Ich gebe dir einen Benefit und du arbeitest, teilst dir das selbstständig ein und bist damit hoffentlich zufriedener. Wir challengen natürlich die Ergebnisse immer mal wieder, aber dadurch, dass du dich wohlfühlst und diesen Benefit erfährst, steigt meiner Meinung nach deine Motivation, deine Produktivität, deine Treue zur Marke … Und man muss sich aus diesem alten Unternehmertum, alles zu kontrollieren, lösen.

TG – Das Thema Eigenverantwortung finde ich auch ganz wichtig dabei. Kontrolle ist eigentlich sowieso vorbei, so kann man Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr führen. Das ist auch gar nicht die Anforderung an Führungskräfte. Der Qualitätsmaßstab ist allerdings der Kunde und der wird so oder so spiegeln, ob die Qualität und der Service, den wir anbieten, stimmen. Dafür brauche ich eigentlich keine Führungskraft. Die Rolle der Führungskräfte verändert sich allgemein im Moment sehr – und das vor allen Dingen in Richtung der Belegschaft. Mitarbeiter verlassen nicht Unternehmen, sondern sie verlassen Führungskräfte.

Weniger Kontrolle, mehr Vertrauen, mehr Eigenverantwortung, mehr Freiheit: Siehst du da auch eine potenzielle Gefahr, dass sich Arbeitnehmer*innen dadurch mit einer freiwilligen Selbstkontrolle mehr Stress machen als eigentlich notwendig?

TG – Ja, das kann ich nur bestätigen. Home Office hat durchaus mehr Flexibilität mitgebracht, aber besonders motivierte Kolleginnen und Kollegen gehen über die eigentliche Anforderung weit hinaus. Es gibt Menschen, die einen besonderen eigenen Leistungsanspruch haben. Das kann man im Haus ein Stück besser im Auge behalten als im Home Office. Über das Home Office sind die Mitarbeitenden in ihren vier Wänden und man bekommt kein Gefühl dafür, wie es demjenigen zu Hause geht. Es passiert tatsächlich häufig, dass Menschen sich über das eigentlich mögliche Maß hinaus belasten. Es ist eine Aufgabe für jede Arbeitgeberin, eine Möglichkeit und ein Gespür dafür zu entwickeln. Als Arbeitgeberin habe ich auch eine Verantwortung für die Belegschaft dabei. Dieses Führen über Distanz stellt eine völlig neue Anforderung an Führungskräfte. Damit müssen uns auseinandersetzen und gute Lösungen finden. Da ist jedes Unternehmen gefragt, Auszeiten anzubieten und dem Team die Möglichkeit zu geben, außerhalb ihres gewohnten Umfelds in Interaktion miteinander zu treten.

Wie geht man mit Mitarbeiter*innen um, die auf solche Interaktionen oder teambildende Maßnahmen gar keine Lust haben?

TG – Jeder ist individuell, was seine eigenen Vorlieben angeht. Ich würde das nicht als Zwangsveranstaltung interpretieren. Natürlich würde ich als Führungskraft hinterfragen, warum das so ist, aber es kann und soll niemand zu so etwas gedrängt werden – zumal z. B. Teamveranstaltungen unter Zwang nicht den Effekt haben, den man sich von ihnen erhofft.

Wie gehst du mit der Kritik um, dass mehr Freiheiten zu einer übermäßig großen Selbstkontrolle führen können?

BS – In unserem Ökosystem haben wir hierfür eine deutlich geringere Gefahr als im Home Office, weil die Menschen bei uns oft auch als Teams zusammenkommen und dabei mag es auch jemanden geben, der alles als Teamleiter so ein bisschen steuert. Die Führungskraft der Zukunft hat die Herausforderung, die Menschen emotional, persönlich zu kennen, ernst zu nehmen, zu begeistern. Diejenigen, die das können, werden in Zukunft die besten Führungskräfte sein. Der Ort, den wir dafür gestaltet haben, bietet genau das.

Spiegelt sich die Suche nach neuen Wegen ein wenig im Kunstpreis, den die Mecklenburgische alle zwei Jahre vergibt? Geht es dabei ums Prestige?

TG – Wir vergeben den Kunstpreis nun seit 20 Jahren. Der Hintergrund ist, dass wir wieder einen stärkeren Bezug zu Neubrandenburg aufbauen wollten – also zur Gründungsstadt der Gesellschaft. Bedingung für den Kunstpreis ist, dass man entweder in Mecklenburg-Vorpommern geboren ist oder dort als Künstler arbeitet. Mittlerweile ist es auch Prestige, weil es uns gelungen ist, dem Kunstpreis einen Namen zu geben, der mittlerweile auch eine Attraktivität für Künstler hat. Wir werden mit diesem Kunstpreis mittlerweile exklusiv in Verbindung gebracht. Es gibt einen Katalog dazu und auch eine hohe mediale Präsenz vor Ort.

Zum Abschluss: Was sind eure Ziele, Hoffnungen, Wünsche für die Zukunft?

BS – Ich hoffe, dass wir mit dem BRAINHOUSE247 wirklich einen Ort schaffen, an dem sich die Menschen künftig sehr gerne aufhalten und wo sie gerne arbeiten. Ich möchte, dass wir dazu beitragen können, dass dieses moderne Arbeiten den Menschen guttut und ihnen hilft, mit den doch hohen Anforderungen, die heutzutage da auf Arbeitnehmer einprasseln, besser klarzukommen – und vor allem gesund zu bleiben. Außerdem hoffe ich, dass wir hier in Deutschland aufwachen. Die Zeiten sind extrem verrückt – Covid, Krieg – das sind schwierige Zeiten und viele Menschen machen sich Sorgen. Wir verhindern mittlerweile zu oft, wir verwalten zu oft, machen es Menschen, die kreativ sind, nicht leicht, erfolgreich zu sein. Wir müssen anfangen, weg von dieser reinen Verwaltung zu gehen und uns wieder mal ein bisschen was zu trauen …

TG – Da stimme ich vollkommen zu. Die Unsicherheit ist etwas, das sehr prägend für unsere Zeit ist, und da ist mein Wunsch natürlich, dass wir lernen, damit vernünftig umzugehen. Wir müssen uns aber auch die Zeit und die Ruhe nehmen, die es dafür braucht. Es gilt, für uns, für die Unternehmen, für die Gesellschaft, eine Problemlösungskompetenz zu entwickeln, miteinander vernünftig im Dialog zu bleiben und die Dinge am Ende anzupacken.

CK

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