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Über Europa – im Gespräch mit Bernd Lange

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Über Europa – im Gespräch mit Bernd Lange


Über Europa

Im Gespräch mit Bernd Lange

Bernd Lange

Herr Lange, vielleicht stellen Sie sich zum Einstieg mal selbst kurz vor.
Ich bin in Oldenburg geboren und aufgewachsen in Varel im Landkreis Friesland. Was insofern für die europäische Politik nicht unbedeutend ist, weil die Friesen die nötige Gelassenheit und Ruhe mitbringen und nicht sofort aus der Haut fahren, wenn mal etwas schiefläuft oder etwas länger dauert. Ich habe 1974 in Oldenburg mein Abitur gemacht und bin ebenfalls seit 1974 SPD-Mitglied und Mitglied der IG Metall. Ich habe in Göttingen studiert, evangelische Theologie und Politikwissenschaft, danach folgten Schuldienst und Studienrat am Gymnasium Burgdorf. 1994 bin ich schließlich ins Europäische Parlament gewählt worden. Zwischen 2005 und 2009 war ich beim DGB. Und seit 2009 bis heute bin ich wieder Europaabgeordneter. Seit 2014 bin ich Vorsitzender des Internationalen Handelsausschusses und erarbeite Gesetze, die mit außenwirtschaftlicher Absicherung zu tun haben. Gerade für Niedersachsen als exportorientiertes Land ist das wichtig, den Gesetze und Handelsverträge schaffen Kontrolle und Sicherheit. Im Moment diskutieren wir zum Beispiel gerade über ein Gesetz zu Handfeuerwaffen. Fast 50 Prozent der Tötungsdelikte, auch in den USA, passieren mit deutschen und europäischen Waffen. Da gibt es also einen akuten Handlungsbedarf.

Würden Sie sich eher als Burgdorfer oder eher als Europäer bezeichnen?
Ich wohne schon seit langer Zeit in Burgdorf, also bin ich wahrscheinlich Burgdorfer. Aber Ernst Bloch hat mal sinngemäß gesagt, Heimat sei dort, wo die Menschen um einen herum sind, die man gerne mag. Und da gibt es sowohl welche in Burgdorf als auch in Brüssel. Also bin ich wohl ein Europäer, der in Burgdorf wohnt.

Laut einer Studie der Forschungsplattform „EU-Matrix“ gehören Sie zu den zehn einflussreichsten Parlamentariern im EU-Parlament – nationen- und parteiübergreifend.
Ich bin ja auch schon eine Weile dabei.

Sie sind 1974 in die SPD eingetreten. Warum? Was ist da schiefgelaufen?
(Lacht) Ich bin mit 18 Jahren aus zwei Hauptgründen in die SPD eingetreten. Erstens war damals die Endphase des Vietnamkrieges und ich bin für Frieden und Verständigung eingetreten. Und in diesem Umfeld war auch die SPD sehr aktiv, was mir nicht unsympathisch war. Und zweitens habe ich in Varel in Friesland zu der Zeit mit anderen Jugendlichen zusammengehockt, es gab eine Band, wir haben Frank Zappa gecovert. Aber es gab kein Jugendzentrum. Also haben wir für ein selbstverwaltetes Jugendzentrum gekämpft. Und die Frage war, wie wir den Stadtrat auf unsere Seite bekommen. Darum bin ich in die SPD eingetreten, um zu versuchen, das umzusetzen. Das ist geglückt, allerdings war ich dann schon zum Studium in Göttingen. Das Jugendzentrum gibt es in Varel immer noch.

Können sie ein bisschen was sagen zu Ihren Grundsätzen? Beschreiben Sie mal Ihren Kompass.
Für mich ist bis heute essentiell, dass der Mensch im Vordergrund steht, dass Menschen eine Würde an sich haben. Daraus folgt, dass es mir darum geht, die Lebensinteressen aller Menschen gleichermaßen durchzusetzen. Das ist ein Grundprinzip, das für mich bereits seit meiner Jugend Geltung hat. Es gibt Menschen, denen geht es gut und alles ist fein, aber es gibt eben auch Menschen, da ist eben nicht alles fein. Aber sie haben die gleichen Lebensinteressen. Und sie sollten die gleichen Möglichkeiten haben. Haben sie aber nicht.

Also ist Gerechtigkeit ein zentraler Punkt?
Ja, der Mensch zuerst. Also nicht „Amerika first!“ oder „Europa first!“, sondern „Mensch first!“.

Die Europäische Union hat bei vielen Menschen keinen besonders guten Ruf und Eva Kaili hat es vor ein paar Monaten nicht besser gemacht. Korruption, Intransparenz, Bürokratie, Überregulierung, das sind die Stichworte. Nehmen Sie mal die EU in Schutz …
Da gibt es zunächst so ein Phänomen, dass viele Politiker*innen auf der nationalen Ebene sich gerne ans eigene Revers heften, wenn etwas gut läuft. Wenn dagegen etwas schlecht läuft, war es Europa. Als ich ganz frisch angefangen habe im Parlament, war Herta Däubler-Gmelin von der SPD Justizministerin. Und sie hat dann eine Gesetzgebung zur Verlängerung der Garantiefrist von einem halben Jahr auf zwei Jahre gemacht, zum Verbraucherschutz. Eine rundum gute Sache. Aber sie hat damit im Grunde nur eine europäische Gesetzgebung umgesetzt. Was ich unterstützt habe. Aber ich habe sie auch gefragt, warum sie das nicht mal in einem Satz irgendwo erwähnt. Es gibt sehr viele Bereiche, da geht es ganz klar um eine Verbesserung der Lebensqualität, um Schutz, um Gerechtigkeit. Nehmen Sie die Umweltpolitik, wir kümmern uns gerade um die Wasserqualität, wir diskutieren über die Nitratbelastung im Grundwasser. Aus der europäischen Gesetzgebung kommen viele grundlegende Entscheidungen, die sehr viel verbessert haben auf unterschiedlichen Ebenen.

Europa bekommt also gerne mal zu Unrecht den schwarzen Peter zugeschoben.
Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass klar und transparent ist, wer in der Politik für die Menschen wirkt. Da gibt es, was die Rolle Europas angeht, sehr viel Luft nach oben. Und es muss dazu klar sein, wie Europa funktioniert. Das ist ja auch Politik mit Mehrheiten und Minderheiten, mit Auseinandersetzungen, mit unterschiedlichen Konzepten und Interessen. Das gehört aus meiner Sicht viel mehr in die Öffentlichkeit. Anne Will hört jetzt auf, da wurde bisher viel über nationale Themen gesprochen. Wie wäre es mal mit einem Format, das sich explizit auf europäische Themen fokussiert?

Bleibt noch die Bürokratie …
Die ist ein Problem. Ich denke, alle Verwaltungsstrukturen haben damit zu kämpfen. Und ich finde es gut, dass momentan viel darüber diskutiert wird, wie wir schneller werden können. Weil wir schneller werden müssen. Wir haben das jetzt bei der Genehmigung von erneuerbaren Energien umgesetzt, da gibt es eine europäische Gesetzgebung, dass die Fristen deutlich reduziert werden müssen. Die Bundesregierung hat das nun nachvollzogen. Da war wieder Europa der Motor. Trotzdem ist die Bürokratie natürlich ein Problem auf ganz vielen Ebenen. Ein klassisches Beispiel ist die Wasserrahmenrichtlinie. Da haben wir eine europäische Gesetzgebung, wir haben eine deutsche Gesetzgebung und 16 Gesetzgebungen in den Bundesländern, und dann haben wir noch die Gemeinden und Landkreise, die ebenfalls ihre Kompetenzen haben. So wird es riesengroß und kompliziert. Aber ich will hier gar nicht die EU nur in Schutz nehmen. Es gibt in Sachen Bürokratie viele Baustellen. Ich habe zum Beispiel mal mitbekommen, dass Unternehmen innerhalb eines Forschungsprogramms einen sehr umfangreichen Geschäftsbericht der letzten drei Jahre vorlegen mussten. Der Hintergrund solcher Vorgaben ist klar. Man will Sicherheit, dass diese Unternehmen stabil und solvent sind. Also wurde das eingefordert und man hat den Unternehmen viel abverlangt. Letztlich wurde dann aber nur nachgesehen, ob es drei Jahre sind, das wurde abgehakt und dann sind die Unterlagen in den Aktenschrank gewandert. Das macht natürlich nicht wirklich Sinn.

In solchen Strukturen verselbstständigt sich gerne mal die Bürokratie, oder?
Das kann passieren und darum muss man immer wieder genau hinsehen. Abläufe prüfen, Transparenz schaffen.

Kommen wir noch kurz zu Eva Kaili. Wenn es nicht transparent genug läuft, ist das für manche offensichtlich eine Einladung.
Kriminelle Energie gibt es leider überall und auch im Europäischen Parlament. Man hat versucht, mit Geld Einfluss zu nehmen. Das hatten und haben wir immer wieder mal. Es gab zum Beispiel einen österreichischen Abgeordneten, der für 15.000 Euro Anträge eingereicht hat. Der ist in Österreich verurteilt worden. Es ist Aufgabe der Justiz, entsprechend einzuschreiten.

Sie legen auf Ihrer Internetseite detailliert offen, was Sie verdienen. Und wenn man sich das ansieht, ist sehr offensichtlich, dass Sie dabei selbst mit sehr viel Bürokratie zu kämpfen haben.
Die Reisekosten abzurechnen, das ist zum Beispiel kein Spaß. Wenn man mit dem Zug unterwegs ist, geht es noch. Aber wenn man mit dem Auto unterwegs ist, dann wird es ziemlich kompliziert.

Machen inzwischen alle Abgeordnete im europäischen Parlament die Einkünfte öffentlich?
Das weiß ich gar nicht. Ich glaube, bei den Sozialdemokraten ist es fast Standard. Und bei den Grünen gehe ich auch fast davon aus. Bei den anderen Parteien wird vermutlich noch Luft nach oben sein.

Die Frage nach der Transparenz bei den Einkünften kommt ja nicht von ungefähr – die EU hat nach wie vor ein Lobbyisten-Problem, oder? Wie viele Lobbyisten arbeiten in Brüssel? 20.000?
Das ist wahrscheinlich keine schlechte Schätzung. Und zeigt, dass sehr viele Unternehmen und Interessenverbände genau wissen, wo die wichtigen Gesetzgebungen gemacht werden. Wir haben jetzt aber immerhin ein Transparenz-Register, das wird momentan noch ein bisschen nachgeschärft.

Reicht das?
Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich finde es zunächst wichtig, dass überhaupt mal klar ist, mit wem man sich trifft. Wer steckt eigentlich hinter einem Verband, einem Verein? Welchen Hintergrund gibt es. Denn es gibt ja mitunter NGOs, das sind bei näherem Hinsehen einfach Industrieverbände. Mir hilft das, um ein bisschen zu sortieren. Letztlich ist aber natürlich die Frage, inwieweit man sich beeinflussen lässt. Und da braucht es dann einfach einen Kompass. Alle Transparenz bringt aber nichts, wenn kriminelle Energie im Spiel ist. Es wandert ja bei einem offiziellen Treffen kein Geld über den Tisch. Es muss klar sein, wer mit wem redet, und ich finde, dass auch eine gewisse Transparenz bei den Einkünften sein muss. Man kann den Lobbyismus so zumindest eingrenzen.

Wie muss ich mir das eigentlich vorstellen mit den Lobbyisten, schreiben die eine Mail, rufen die an? Und dann gibt es einen Termin?
Im Prinzip läuft das genau so. Es kommen Terminanfragen rein, dann wird selektiert, wen man treffen will und wen nicht. Manches ist einem sympathisch, anderes nur so halb. Manche lobbyieren auch für wirklich gute Sachen, beispielsweise für die Wahrung der Menschenrechte in bestimmte Staaten. Andere wiederum haben knallharte wirtschaftliche und manchmal fragwürdige Interessen. Und manche sind auch sehr penetrant. Da gibt es dann zum Beispiel den Versuch, mich abzufangen, wenn ich irgendwo unterwegs bin. Einmal bin ich mit dem Zug gefahren und dann saß da plötzlich tatsächlich jemand neben mir. Sehr unangenehm und sehr unhöflich. Gelegentlich reagiere ich dann auch mal schärfer. Das gibt jedenfalls Minuspunkte. Früher – in letzter Zeit eigentlich nicht mehr so häufig – gab es auch Versuche, mit Einladungen zu ködern. Ich hatte mal eine Einladung zu einem Formel 1 Autorennen mit Hotelübernachtung und Hubschrauberflug vom Hotel zum Nürburgring … Klingt ganz charmant, aber so etwas kann man natürlich auf keinen Fall annehmen.

Nehmen andere so etwas an?
Das würde ich mal stark vermuten. Wobei das Bewusstsein für die Problematik inzwischen deutlich gewachsen ist. Zumal wir auch die Verpflichtung haben, solche Geschichten, also alle Zuwendungen, in das Transparenz-Register reinzuschreiben. Essen, alle Reisen, , alles, was von Dritten finanziert wird, muss angegeben werden. Mit dieser Regel hat sich die Annahme deutlich reduziert.

Die Frage ist ja, ob das auch wirklich dokumentiert wird.
Ja, aber wie sagt der Volksmund: Man guckt den Menschen immer nur vor den Kopf. Nehmen Sie mal den Skandal um Marc Tarabella aus Belgien. Dem wird vorgeworfen, viele tausend Euro angenommen zu haben, um Abstimmungen zu beeinflussen. Das hätte ich niemals gedacht. Ein netter, freundlicher Kollege. Man redet, man scherzt. Und dann kommt so etwas heraus.

Wie ist das bei Ihnen? Gab es schon den Versuch? Oder wissen die Leute, dass bei dem Lange eh nichts zu machen ist?
(Lacht) Inzwischen hat sich wohl herumgesprochen, dass ich sehr resistent bin. Direkte Bestechungsversuche habe ich noch nicht erlebt. Aber es gibt mitunter Lobbyisten, die schon sehr penetrant auftreten. Da habe ich auch mal Leute rausgeschmissen. Es ging damals um die Qualität von Kraftstoffen und diese Leute von der Ölindustrie haben ganz konkret gedroht, dass sie eine Raffinerie schließen wollten: „Wenn das kommt, dann machen wir die Raffinerie zu!“ Und so ging es immer weiter. Irgendwann habe ich es dann abgebrochen.

Kommen wir noch einmal zurück zur Bürokratie. Es gibt ja in dem Zusammenhang den Vorwurf der Überregulierung. Die EU macht für alles Vorschriften, was nicht schnell genug auf den Bäumen ist. Und dann kommen häufig die beiden berühmten Beispiele, die Gurken und das Olivenöl. Können Sie das noch hören?
Das sind zwei sehr bekannte Mythen und die Geschichten halten sich schon echt lange. Mit der Gurkenverordnung hat die EU damals Forderungen des Einzelhandels umgesetzt. Es ging darum, Handelsklassen festzulegen, die den Handel erleichtern sollten. Vier Handelsklassen, vier Krümmungsgrade. Man kann auf diese Weise einfach feststellen, wie viele Gurken sich in einem Karton befinden. Das macht den Vertrieb leichter und es macht die Gurken für den Endverbrauer letztlich günstiger. Das ist die ganze Geschichte. Und daraus gemacht wurde, dass die EU sogar festlegen will, wie krumm eine Gurke sein darf. Was sich bis heute hartnäckig hält, obwohl die Normierung der Gurkenkrümmung und auch anderer Obst- und Gemüsesorten seit 2009 abgeschafft ist. Und dann war da noch das Olivenöl. Da ging es der EU um eine Stärkung der Rechte der Konsument*innen, indem sichergestellt werden sollte, dass kein minderwertiges Öl aufgetischt wird. Gastronomiebetriebe sollten verpflichtet werden, nur noch versiegelte, nicht nachfüllbare Ölflaschen anzubieten. In den südlichen Produzentenländern gibt es ähnliche Regelungen schon lange und die waren einverstanden. In den nördlichen Ländern gab es einen Proteststurm. Zu viel Einmischung, zu viel Bürokratie. Und letztlich wurde der Plan abgesagt, das ist jetzt auch schon fast zehn Jahre her.

Europa-Bashing ist ja ein beliebter Sport, auch bei deutschen Politiker*innen. Im Zweifel darf man draufhauen. Es gibt so eine latente Abneigung, oder?
Es ist ganz offensichtlich, dass es das gibt. Man hat ein Stück der eigenen Souveränität an Europa übertragen, das gefällt nicht allen. Und manche Parteien gehen ja auch schon weit darüber hinaus und behaupten, dass es national besser laufen würde. Dass man sich schleunigst aus der EU verabschieden müsse. Ich empfehle allen, die so reden, einen Blick nach Großbritannien zu werfen. Kampagnen gibt es natürlich auch immer wieder. Skandalisierungen. Ich erinnere mich noch gut an eine Geschichte in der BILD, da war von einem Dirndl-Dekolleté-Verbot im Biergarten die Rede. Und in Bayern hat man sich sofort aufgemacht, die bayrische Kultur und Lebensfreude zu retten. Hintergrund war eine Richtlinie zum Schutz von Arbeitnehmer*innen vor Augen- und Hauterkrankungen durch UV- oder Laser-Strahlung. In dieser Richtlinie gab es ein paar Zeilen zum Schutz gegen starke Sonneneinstrahlung, aber von Dekolletés stand da nichts. Sondern lediglich etwas dazu, dass Arbeitgeber*innen auf das Gesundheitsrisiko hinweisen müssen. Also viel Rauch um gar nichts. Lediglich Skandalisierung. Und nach dem berühmten Faktencheck absurd.

Trotzdem bleibt etwas hängen und es ist wahrscheinlich schwer, dagegen anzukommen.
Bürokratie und Überregulierung bleiben Dauerbrenner. Und ich will auch gar nicht bestreiten, dass es innerhalb der EU Handlungsbedarf gibt. Aber den gibt es beispielsweise in Deutschland ebenfalls nicht zu knapp, das ist kein exklusives EU-Problem. Wenn ich Veranstaltungen habe hier in Deutschland, bei denen das Thema eventuell zur Sprache kommt, dann mache ich mir manchmal den Spaß und besorge mir vorher die Friedhofssatzung des Ortes. Da gibt es keine EU-Vorgaben, keine Landes- und keine Bundesvorgaben, das ist allein Sache der kommunalen Zuständigkeit. Und da geht es dann gerne mal um den Neigungswinkel der Grabplatten, die Form der Grabsteine, welche Büsche eingepflanzt werden dürfen und um das Wegerecht. Da treibt die Bürokratie wildeste Blüten. Was immerhin zeigt, dass nicht nur Europa Bürokratie kann.

Kommen wir mal zum Positiven. Was bedeutet Europa für Sie ganz persönlich? Was kann Europa?
Zuerst und ganz zentral ist Europa nach wie vor ein Friedensprojekt. Auch wenn das auf den ersten Blick vielleicht banal klingt. Auf dem europäischen Kontinent gab es über Jahrhunderte Kriege, die Europäische Union ist ein Garant für Frieden. Wir hatten neulich erst wieder eine Diskussion über Brüssel und Straßburg, darüber, ob das Parlament auch in Straßburg tagen muss und ob das ökonomisch nicht eigentlich Quatsch ist. Aber für mich hat das auch eine starke Symbolkraft. Straßburg hat in den letzten 100 Jahren vier Mal die Nationalität wechseln müssen und viel Leid erfahren. Und genau dort tagt jetzt dieses Friedensparlament. Was ich außerdem faszinierend finde, ist, dass in der Europäischen Union Länder an einem Tisch sitzen, die ihre ganz eigene Geschichte und Kultur mitbringen. Und dass man sich trotzdem verständigt. Und dann ist Europa natürlich auch eine Chance, die globalen Herausforderungen in den Griff zu bekommen, sei es der Klimawandel oder die wirtschaftliche Entwicklung. Das lässt sich gemeinsam wesentlich besser gestalten als allein. Die Nationen in Europa sind nur dann stark, wenn Europa stark ist.

Der Handel ist Ihr zentrales Thema. Agiert die EU eigentlich fair, zum Beispiel im Austausch mit afrikanischen Ländern?
Da gibt es auf jeden Fall noch Luft nach oben. Aber es hat sich auch schon viel geändert. Die EU hat ja in der Handelspolitik erst sukzessive Kompetenzen bekommen, die Zuständigkeiten haben sich gewandelt und auch die demokratische Beteiligung des Parlaments hat sich entwickelt. Inzwischen hat das Parlament wesentlich mehr Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten. Und das zeigt sich auch in den Handelsbeziehungen, die wir seither geknüpft haben. Wir machen Fortschritte, aber wie gesagt, gerade in Bezug auf afrikanische Staaten noch mit viel Luft nach oben. Dass das oft asymmetrisch läuft, ist erkannt, und ein paar Grundbedingungen sind bereits verändert. Ein gutes Beispiel sind die Hühnchenteile, die aus der Europäischen Union exportiert werden, da sind die Exportsubventionen mit Einschränkungen seit 2014 abgeschafft. Was längst nicht heißt, dass alles gut ist. Aber es sind Schritte. Und beispielsweise im Handelsvertrag mit Westafrika ist festgeschrieben, dass sie Schutzmaßnahmen für ihre Agrarprodukte ergreifen können. Ghana erhebt nun zum Beispiel 15 Prozent Zoll auf Hähnchenteile aus Europa. Das gleicht in etwa den Produktivitätsnachteil der heimischen Produktion aus. Wir haben also Gestaltungsmöglichkeiten. Und ich bin überzeugt, dass wir da noch einiges mehr machen können. Wir sollten zum Beispiel noch weitaus mehr auf die Veränderung von Produktionsweisen achten. Etwa 80 Prozent unserer Kakaobohnen, die wir hier bei uns weiterverarbeiten, kommen beispielsweise aus Ghana und der Elfenbeinküste. Die Preisentwicklung ist aber nicht so, dass für eine hinreichende und vernünftige wirtschaftliche Entwicklung gesorgt ist. Es gibt dort etwa zwei Millionen Kinder, die die Kakaobohnen pflücken. Wir müssen darum unbedingt mehr in diesen Ländern investieren, um für einen Wandel zu sorgen.

Das heißt aber auch, dass die Produkte bei uns sich verteuern müssten?
Ja, das ist so. Aber wenn man sich vor Augen führt, dass zum Beispiel eine Jeans aus Bangladesch im Einkauf zehn Euro kostet, und dass sie bei einer Verdopplung des Mindestlohns und der Investitionstätigkeit dann elf Euro kosten würde, dann wird vielleicht klar, in welchen Dimensionen und Verhältnismäßigkeiten wir uns da bewegen.

In Deutschland gibt es ein Lieferkettengesetz und auch die EU hat jetzt einem Lieferkettengesetz zugestimmt. Bringt das was?
Aus meiner Sicht bringt das eine Menge. Die Nachhaltigkeit rückt in den Vordergrund, die EU kann sich nun viel genauer die Lieferketten ansehen. Das, was früher in der Handelspolitik der Leitgedanke war, nämlich bei möglichst geringen Kosten und möglichst offenen Grenzen möglichst viel Gewinn zu generieren, das ist jetzt vorbei. Wir können uns neben der Nachhaltigkeit auch die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ansehen, wir können abgleichen mit dem Pariser Klimaschutzabkommen. Die Unternehmen müssen sich jetzt darum kümmern und sie kümmern sich. Jedenfalls die meisten, die unter diese Gesetzgebung fallen. Für die Unternehmen ist das ja auch eine Chance. Wenn sie transparent sind und nachhaltig agieren, ist das durchaus ein Verkaufsargument.

Wie stehen Sie zur Globalisierung? Kann man das einfach so laufen lassen?
Das Problem ist, dass wir inzwischen eine sehr fragmentierte Globalisierung haben. Wir erleben derzeit einen starken Protektionismus der USA, auch China versucht sehr stark global Einfluss zu nehmen und die eigenen Interessen durchzusetzen, mit teilweise unfairen Mitteln. Viele andere Nationen gehen einen ähnlichen Weg. Während der Coronapandemie gab es rund 150 neue, protektive Maßnahmen, zum Beispiel Exportstopps. In Zukunft wird es wieder mehr um bilaterale Beziehungen gehen und die EU versucht momentan, ein starkes Netz aufzubauen. Wir haben gerade neue Abkommen mit Mexiko, mit Chile, mit Neuseeland und auch mit Australien vereinbart. Dazu müssen wir nun auch unilaterale Gesetzgebungen machen, um unsere Maßstäbe zu verteidigen. Das Lieferkettengesetz ist ein Beispiel. Wir setzen so im Zweifel in den Handelsbeziehungen einseitig stärker Nachhaltigkeit durch.

Wandel durch Handel, das hat offensichtlich nicht funktioniert. Die EU war beispielsweise lange Zeit der größte Handelspartner Syriens. Russland ist ein weiteres Negativbeispiel.
Es ist heute ganz offensichtlich, dass eine Handelspolitik keine bestehenden politischen Systeme verändert. Es gibt natürlich unzählige Beispiele, da haben Handelsbeziehungen positive Veränderungen eigeleitet, da hat es positive Lohnentwicklungen gegeben oder Fortschritte bei der politischen Partizipation. Aber wir würden das total überfrachten, wenn wir behaupten, gute Handelsbeziehungen initiieren automatisch in unserem Sinne positive politische Veränderungen.

Lassen Sie uns kurz ganz grundsätzlich über den Kapitalismus sprechen. Brauchen wir global nicht dringend viel stärkere Leitplanken, damit es halbwegs human zugehen kann?
Wir brauchen faire Bedingungen. Ich glaube, die Experimente, Märkte völlig frei laufen zu lassen, sind allesamt gescheitert. Natürlich schaffen die Bedingungen am Markt eine gewisse Konkurrenz, und dadurch auch Fortschritt, aber wie gesagt, das Prinzip der EU bis 2009, alle nicht-tarifären Handelshemmnisse einzureißen und die Zölle zu senken, ganz im Sinne von Adam Smith und David Ricardo, weil der Wohlstand dann quasi von allein kommt, das hat sich als Irrtum erwiesen. Das hatte Konsequenzen bei den Arbeitnehmer*innen und bei der Umwelt und die werden in diesem marktradikalen Kapitalismus nicht reflektiert.

Die fairen Bedingungen haben lange gefehlt und sie fehlen noch – mit dem Ergebnis, dass ganz wenige unfassbar reich geworden sind und gleichzeitig viele in bitterer Armut leben müssen.
Das ist leider so. Mir wurde beim Staatsbesuch in Ghana gesagt: „Wissen Sie, Herr Lange, wir sind arm, weil Sie reich sind“. Die Spaltung ist wirklich enorm. Und dagegen müssen wir uns nun stemmen. Nicht in dem Sinne, durch Handel für politische Veränderungen sorgen zu wollen, sondern zunächst mal für mehr Fairness. Wie gesagt, Wandel durch Handel, das scheint ein gescheiterter Ansatz zu sein. Entscheidend ist, dass beide Partner fair spielen. Stichwort Russland: Spätestens nach der Annexion der Krim hätte man dieses Prinzip nicht weiterverfolgen dürfen.

Wandel, sonst kein Handel – wäre das die bessere Herangehensweise?
Das wiederum würde wahrscheinlich ebenfalls gegen unsere Interessen laufen. Es gibt ja Stimmen, die jetzt fordern, dass wir alle Produktionen zurück ins eigene Land holen sollten. Dass das problematisch ist, sehen wir aber in Amerika. Es gibt dort diese starke Abschottung, aber damit verbunden sind Preissteigerungen und Produktionsentwicklungen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Ein Beispiel, dass das gehörig aus dem Ruder laufen kann, sind in den USA die Eisbrecher. Die Beschaffung ist stark geschützt. Aber sie sind wahnsinnig teuer und entsprechen nicht mehr dem neusten Stand der Technik. Eigentlich müsste man finnische Eisbrecher kaufen, die wesentlich günstiger und besser sind. Aber dagegen steht der Protektionismus. Wenn die Bedingungen richtig gesetzt sind, kann durch Handel nachhaltiges Wachstum stimuliert werden. Es geht jetzt eher darum, für transparente und stabile Beziehungen zu sorgen, einseitige Abhängigkeiten zu reduzieren und zu diversifizieren. Und ja, es geht auch darum, stellenweise Gegenmaßnahmen einzuleiten, um bestimmten Strategien beispielsweise von China entgegenzutreten.

Wo ist denn die rote Linie der EU? Wann wird der Handel gestoppt?
Das ist eigentlich klar, kriegerische Handlungen gegen souveräne Staaten werden nicht akzeptiert. Und ich denke, dass muss man dann auch sehr konsequent durchziehen. Die Sanktionspakete gegen Russland sind alles andere als weich. Leider erleben wir aber auch sehr viele Umgehungstatbestände, so dass die Wirtschaft Russlands nicht so stark betroffen ist. Wir beobachten zum Beispiel, dass in Kasachstan die Exporte extrem gestiegen sind. Es gibt aber auch noch andere rote Linien. Wenn Staaten beispielsweise Zwangsarbeit nutzen. Dazu bringen wir gerade eine Gesetzgebung gegen Produkte auf den Weg, die durch Zwangsarbeit hergestellt werden. Wobei uns wichtig ist, nicht nur nach außen zu gucken, sondern auch nach innen. Wie sind eigentlich die Arbeitsbedingungen innerhalb der EU? Wie ist es bei uns um die Menschenrechte bestellt?

Wenn der Partner dann ein größeren Partner ist, werden die Linien aber ein bisschen durchlässiger, oder? China findet sich noch auf keiner Sanktionsliste.
Wenn es eine Evidenz gibt, dass Produkte durch Zwangsarbeit hergestellt werden, dann dürfen diese Produkte mit dem neuen Gesetz nicht mehr in die EU importiert werden. Und das betrifft im Zweifel nicht nur China, da geht es um sehr viele Länder. Nach einer Schätzung der ILO müssen um die 39 Millionen Menschen derzeit unter Zwangsarbeitsbedingungen leben.

Eine Antwort, nicht nur auf den Krieg in Europa, sondern insgesamt die Entwicklungen in der Welt, muss ein starkes, geeintes Europa sein, oder? Mehr Europa?
Davon bin ich überzeugt. Und das ist wohl ein Stück weit auch die Lehre aus den jüngsten Entwicklungen. Der Brexit war in gewissem Sinne ebenfalls ein Lehrstück. Es gab ja Diskussionen um einen Dexit in Deutschland oder Frexit in Frankreich, das hat sich erledigt. Die einzige rechtspopulistische Partei in Europa, die das noch fordert, ist die AfD. Alle anderen wollen Europa eventuell noch reformieren, aber von einer Auflösung spricht niemand mehr. Das Thema ist durch. Und dass mehr Europa wichtiger ist als vielleicht je zuvor, hat auch der Krieg Russlands gegen die Ukraine gezeigt. Alle elf Sanktionspakete sind übrigens einstimmig verabschiedet worden und auch die Aktivierung des Flüchtlingsstatus für alle Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine fliehen. Ich denke, viele haben jetzt verstanden, dass es notwendig ist, gemeinsam zu agieren.

Es gab und gibt stellenweise Einigkeit, aber es gibt auch eine starke Uneinigkeit. Beim Umgang mit Flüchtlingen gibt es einen Wettbewerb um Unattraktivität. Und wenn ich mir den Umgang einiger Länder mit den Flüchtlingen ansehe, zweifle ich, dass die präsentierten Lösungen wirklich humane Lösungen sind. Momentan scheinen überall eher wieder nationale Interessen bestimmend zu sein.
Das liegt natürlich auch daran, dass wir es seit 2015 nicht hinbekommen haben, eine vernünftige Migrationsgesetzgebung zu organisieren. Bis heute nicht. Das ist und bleibt eine Baustelle.

Es gibt in der EU ein paar Länder, die immer wieder blockieren. Ungarn ist dabei ganz weit vorne, aber in Sachen Rechtsstaatlichkeit bekleckert sich auch Polen nicht mit Ruhm. In Schweden regiert eine rechte Regierung, in Italien ebenfalls. Nationalisten und Rechtspopulisten sind in mehreren weiteren Ländern auf dem Vormarsch. Keine guten Aussichten für die europäische Idee, oder?
Ich glaube, wie schon gesagt, dass eigentlich alle wissen, wie wichtig eine europäische Einheit ist. Und wir kommen auch mehr und mehr dahin, dass wir pragmatischer entscheiden. Die Einstimmigkeit des Rates gibt es im Grunde genommen nur noch in zwei Bereichen, in der Steuerpolitik und der Außensicherheitspolitik. Alles andere wird inzwischen mit der Mehrheit entschieden. Aber bei der Steuerpolitik und der Außensicherheitspolitik müssen wir ebenfalls ran und weg von der Einstimmigkeit. Leider muss der Beschluss, um das umzusetzen, wiederum einstimmig sein. Das ist die Schwierigkeit. Was aber nicht heißt, dass wir es niemals hinbekommen werden. Zur Erinnerung, am Anfang der Geschichte der EU war alles einstimmig. Es ergeben sich immer wieder Chancen. Und ja, es gibt ein paar Länder, die aus der Reihe tanzen, was zum Beispiel die Einhaltung des EU-Rechts betrifft. Wir haben ein paar Verfahren mit Ungarn. Orban geht oft in eine Richtung, die rechtsverletzend ist. Dann gibt es ein Urteil und dann geht er zurück, aber auch keinen Millimeter weiter als er muss. Bei ein paar Geschichten ist er stur, darum bekommt er nun kein Geld aus der EU-Kasse. In Polen gibt es aber zum Beispiel eine starke demokratische Opposition und demnächst sind dort Wahlen. Vielleicht öffnet sich dort eine neue Tür. Das sehe ich ein bisschen entspannter.

Bereitet Ihnen der zunehmende Rechtpopulismus Sorgen?
Große Sorgen. Ich frage mich natürlich, wie das nächste Europaparlament aussehen wird. Und gleichzeitig stehen wir vor großen Herausforderungen. Da ist der Klimawandel, da steht eine notwendige Transformation an. Wir haben weiter Krieg. Das alles erzeugt große Unsicherheiten. Und es ist eine ganz wichtige Aufgabe der Politik, auch der Sozialdemokratie, den Menschen eine vernünftige Perspektive aufzuzeigen. Sicherheit im Wandel, das müssen wir hinbekommen. Da haben wir durchaus die richtigen Mittel, aber es gelingt noch nicht, das entsprechend zu kommunizieren. Der Nährboden für die Rechtspopulisten.

In Deutschland erleben wir gerade, dass Populismus auch bei den etablierten Parteien immer mehr in Mode kommt. Die CDU/CSU hat zum Beispiel gegen den „Heizungs-Hammer“ gekämpft. Und die vielzitierte Brandmauer bröckelt ebenfalls.
Im europäischen Parlament gibt es immerhin noch die Einigkeit, mit Rechtspopulisten nicht zusammenarbeiten. Wenn die Anträge stellen, kommen die nicht durch. Das wir auch durchgehalten. Nur jetzt, ein knappes Jahr vor den nächsten Wahlen, werden einige nervös und in der Tat sehen wir, dass in der europäischen Volkspartei, wo die CDU/CSU ebenfalls Mitglied ist, ein bisschen stärker nach rechts geblinkt wird.

Die nächste große Herausforderung wird KI sein, auch für die Demokratien. Wie sollten sich die Demokratien wehren, wenn Meinungen demnächst auf Knopfdruck generiert werden können?
Wir erleben schon jetzt, dass beispielsweise Russland auch einen hybriden Krieg gegen die Demokratien der Welt führt, und das nicht erst seit dem Einmarsch in die Ukraine. Europa muss auch in diesem Feld dringend aufrüsten, oder?
Wir haben zwar schon eine ganze Reihe von Regeln für den digitalen Bereich aufgestellt, doch das reicht natürlich längst nicht. Aber das war in der Vergangenheit auch ein Kampf gegen ideologische Vorstellungen. Der digitale Raum galt vielen als Raum der absoluten Freiheit. Dass wir jetzt sagen, dass wir in der analogen und digitalen Welt die gleichen Regeln brauchen, ist eine noch eher jüngere Einsicht. Das war kein einfacher Schritt und da gab es auch immensen Widerstand. Aber das Problem ist inzwischen erkannt und wir arbeiten auch an einer Gesetzgebung zur künstlichen Intelligenz. Und wenn die EU da etwas vorgibt, ist das immer auch ein Pfund. Andere Länder werden dem folgen. Man nennt das den Brüssel-Effekt. Zudem gibt es einen intensiven Austausch mit befreundeten Ländern, mit Amerika, mit Japan, mit Indien.

2024 ist die nächste Europawahl. Treten Sie wieder an?
Ja, ich trete wieder an. Ich möchte noch viel bewegen.

Ein Problem bei Europawahlen ist ja immer die Wahlbeteiligung. Vielleicht sagen Sie mal zum Abschluss, warum man dringend hingehen sollte.
Wir werden das erste Mal eine Wahl haben, bei der ab 16 gewählt werden darf. Und in der EU werden Entscheidungen getroffen, die die Lebensbedingungen der nachfolgenden Generationen stark bestimmen. Man kann also sehr direkt Einfluss nehmen auf die eigene Lebensperspektive. Ich finde, das sollte stark motivieren.

 

Lars Kompa

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Der Freundeskreis im Gespräch im August

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Der Freundeskreis im Gespräch im August


Vera Brand und Corinna Weiler

Diesen Monat haben wir mit den Freundeskreis-Mitgliedern Vera Brand vom Kulturraum Region Hannover e.V. und Corinna Weiler vom Andersraum e.V. gesprochen: über Diskriminierung sowie über Repräsentanz und Empowerment marginalisierter Gruppen, über Gegenwind sowie über Möglichkeiten der Aufklärung …

Stellt euch doch beide einmal vor.

Vera Brand

VB – Ich bin Vera Brand und Vorsitzende vom Kulturraum Region Hannover e.V., ein ehrenamtlicher Verein. In der Reihe Kulturperlen stellen wir die Vielfalt der Kultur in den 21 Städten der Region vor.
Wir rücken deren kulturelle Highlights
ins rechte Licht: etwa bei Ausstellungen in der Kröpcke Uhr, die der Künstler Joy Lohmann, 2. Vorsitzender unseres Vereins, kuratiert.
Wir vom Vorstand, vom Kulturraum, kommen aus unterschiedlichen Bereichen. Ich selbst als Kulturveranstalterin, eine Kunsthistorikerin, einer war im Marketing tätig. Es ist also eine bunte Mischung an Leuten, die das organisieren, und wir nehmen dann Kontakt mit den Verantwortlichen der Orte auf, besichtigen mit Kulturinteressent*innen verschiedene kulturelle Kleinode, so als Schnupperkennenlernen: auch mit den Künstler*innen in Ateliers und in Kirchen mit Konzerten … ganz unterschiedliche Dinge.

 

Cora Weiler

CW – Ich bin Cora Weiler, mein Pronomen ist sie. Ich sage Pronomen immer dazu, weil man ja nicht von sich aus wissen kann, mit welchem Pronomen eine Person angesprochen werden will. Und ich arbeite im Andersraum. Der Andersraum hat vier Projekte. Das Queere Zentrum in der Nordstadt, wo sich Gruppen treffen, wo Veranstaltungen und Beratung stattfinden. Angedockt daran ist ein Gesundheitsprojekt, in dessen Rahmen medizinische Fachkräfte zu queeren Themen fortgebildet und queere Menschen empowert werden, um ihre Rechte im Gesundheitssystem besser zu kennen. Dann das Queere Jugendzentrum mit Gruppen, einem offenen Café, Ferienfreizeiten, Workshops, Beratungetc. Dann haben wir das Schlau-Projekt: ein Bildungs- und Aufklärungsprojekt, wo peer-to-peer queere Jugendliche in die Schule gehen und dort über diese Themen sprechen. Das vierte Projekt ist der Christopher Street Day.

VB – Da ist ja auch der Freundeskreis sehr dabei.

CW – Genau, und es gibt inzwischen 28.000 Besucher*innen, hier am Opernplatz. Und eben CSD-Kulturtage übers Jahr verteilt, mit einzelnen Veranstaltungen. Das ist das Spektrum. Wir haben als Vision „Damit du sein kannst, wie du bist.“ Das klingt so unschuldig, ist aber ganz schön radikal und groß. Wir wollen, dass jeder Mensch frei und selbstbestimmt leben kann – egal wie er sich sozialstrukturell positioniert. Und da sind wir noch weit von weg, wenn wir uns anschauen, was es an Diskriminierung vielfältigster Art gibt. Wenn wir etwas veranstalten, gucken wir, ob das auf dieses Wirkungsziel Freiheit und Selbstbestimmung einzahlt: Das ist quasi die Grundüberlegung.

Wie weit sind wir denn von dieser Vision entfernt? Es scheint zwar viel Empowerment, viele Plädoyers für Queerness zu geben, aber auch Gegenwind, der anwächst.

CW – Die Wahrnehmung teile ich persönlich. Sie lässt sich auch durch Studien untermalen. Kürzlich gab es eine Fachtagung, die die Landeshauptstadt organisiert hat, wo Prof. Dr. Dominic Frohn aktuelle Studien zur Queerfeindlichkeit auch intersektional vorgestellt hat und sagen konnte, dass zum einen die Akzeptanz gestiegen ist … Aber die Diskriminierungserfahrungen sind – statistisch erwiesen – immer noch genauso hoch. Das ist also ein paradoxer Doppelbefund. Und ein Drittel der Bevölkerung sagt etwa: „Ich finde es ekelhaft, wenn sich ein Männerpaar in der Öffentlichkeit küsst.“ Ein Drittel. Das hat natürlich reale gewaltvolle Auswirkungen in der Praxis. Das haben wir jetzt beim CSD gesehen, wo es queerfeindliche Angriffe gab, auch sexualisierte Übergriffe. Ich habe den Eindruck, dass die Verrohung, die wir auch in den Schulen bemerken, nicht zufällig ist. Es werden durch rechtsextreme Netzwerke und russische Einflussnahme in den sozialen Medien gerade trans*Themen gezielt instrumentalisiert, um zu spalten und gegen eine Minderheit zu mobilisieren. Und wir sind wenige.

VB – Aber ich glaube ja, dass es wesentlich mehr sind, die sich nur nicht outen, die sich nicht trauen, zu ihrer Identität zu stehen. Ich habe im persönlichen Bereich, gerade bei Schauspieler*innen, viel derartiges erlebt. Vielleicht ist das jetzt heute auch ein bisschen anders, aber es war so. Oder gehen wir mal in diesen Bereich der Fußballer. Jeder weiß, wie viele Fußballer auch in den oberen Kategorien, nicht heterosexuell sind. Und da mag keiner was sagen … Es ist wichtig, dass wirklich Aufklärung in die normalen Bereiche gebracht wird. Dass viel erzählt und berichtet wird. Ich bin auch bei Soroptimist International, hier im Club Hannover 2000, und wir haben neulich einen Abend gehabt, der so aufschlussreich war: Da waren Pia und Luzi, das sind zwei Trans-Männer, die kamen in ihrem Trans-Outfit und haben eine Präsentation abgehalten, auch darüber, wie für sie das Coming-out war. Die waren allen so sympathisch, dass auch die, die sonst keine Berührung damit hatten, das nachvollzogen haben. Aufklärung klingt vielleicht zu belehrend – aber ein Kennenlernen, dass die Menschen sich näher kommen, sich austauschen, miteinander zu tun haben: das ist wichtig.

CW – Genau. Wir teilen unsere Arbeit auf in Empowerment- und Antidiskriminierungsarbeit. Empowerment-Arbeit richtet sich an eine queere oder sonst wie marginalisierte Zielgruppe, sodass sie Stärkung bekommen. Und die Antidiskriminierungsarbeit, liebevoll auch Erklär-Bär-Arbeit genannt, richtet sich an eine Mainstream-Bevölkerung. Die Schulworkshops sind dafür das beste Beispiel: rund 100 Workshops pro Jahr bei 300 Anfragen. Und der CSD an sich, der ist ja auf eine Art auch beides. Was übrigens das Coming-out am Arbeitsplatz, speziell in der Kulturbranche, betrifft: Es gab ja vor wenigen Jahren Act-out als Kampagne, wo sich eben Schauspieler*innen konzertiert geoutet haben. Und ich war total erstaunt, weil ich dachte, die Branche wäre so offen … Ist sie aber eben nicht! Die sagen sich: „Wenn ich mich oute, werde ich nicht mehr für bestimmte Rollen besetzt.“ Das hat reale Auswirkungen auf eine Karriere.

VB – In Hannover sind wir ja, was das Schauspiel betrifft, wirklich weit. Eine große Offenheit. Schade, dass Sonja Anders jetzt nach Hamburg geht. Auch großartig die Leiterin vom jungen Schauspiel, Barbara Kantel: ebenfalls eine ganz Offene. Was da für Aufführungen sind! Die fördern wir zum Beispiel von den Soroptimistinnen. In Hannover scheinen wir da schon weit zu sein. Ich glaube, dass die Probleme im ländlichen Bereich doch noch größer sind. Welche Erfahrung hast du da?

CW – Also da müsste man jetzt die Einstellung sozialwissenschaftlich untersuchen, ob das so stimmt. Mir sind keine Studien bekannt, wo Stadt-Land-Unterschiede diesbezüglich verschieden erhoben worden wären. Fakt ist aber, dass eine größere Infrastruktur auf dem Land schwerer herzustellen ist. Es gibt da einfach weniger queere Menschen. Und ich glaube, für queere Menschen ist immer noch das erste Mal präsent, wo sie zum CSD oder in eine Gruppe gegangen sind und gemerkt haben: „Ich bin nicht die einzige queere Person, es gibt andere.“ Gerade für Jugendliche ist es wichtig, dass sie ein breites Spektrum an Rollenvorbildern haben; dass sie auf dem Land nicht nur die eine andere lesbische Frau als Orientierung haben, sondern eben ein Spektrum.

Bleiben wir kurz beim Coming-out. Der Begriff wird ja teils auch kritisiert, weil er impliziert, dass man vorher etwas verbergen würde …

CW – Naja, es ja ein inneres und äußeres Coming-out. Das innere Coming-out wäre: Ich werde mir meiner Selbst, meiner Identität bewusst. Das kann sich auch noch ändern … für alle von uns. Das ist ja oft der langwierige Prozess. Wenn der durchlaufen ist, ist die Frage: „Zeige ich mich nach außen?“ Die Annahme ist ja in der Regel, dass ich cis-geschlechtlich und heterosexuell bin. Das wird ja auf mich projiziert. Das muss ich dann richtigstellen. Und das ist mein Coming-out.

VB – Und es ist auch so, dass jeder Mensch ja erstmal die Suche nach sich selber hat, ganz gleich, ob es ums Geschlecht oder andere Dinge geht. Man muss sich ja im Leben erstmal finden und selber annehmen, wie man ist – auch im heterosexuellen Bereich. Sich selber sagen, wer man ist, wer man sein möchte und wie man sich nach außen zeigt: das ist ein Lernprozess, den man immer durchlaufen muss – ganz gleich, ob queer oder hetero.

CW – Total, individualpsychologisch auf jeden Fall. Zugleich ist der Unterschied in der marginalisierten Identität, dass es ja gesellschaftsstrukturelle Gewalt gibt, die eben Cis-Hetero-Menschen, wenn sie weiß sind und nicht jüdisch etc., nicht erleben. Queere Menschen werden gesetzlich benachteiligt. Und wenn ich eine Frau in dieser Gesellschaft bin, egal ob cis oder trans, werde ich mit höherer Wahrscheinlichkeit sexualisierte Gewalt erleben … erlebe Belästigung im öffentlichen Raum, habe die Pay Gap. Das sind handfeste, belegbare Diskriminierungen.

VB – Ich finde, da sind sogar Rückschritte zu sehen: dass Frauen sich viel häufiger nicht mehr so offen nach außen begeben oder ihre eigenen Meinungen vertreten. Corona hat das verstärkt, dass viele sich wieder mehr ins Heim zurückziehen. Ich meine, ich komme ja aus dieser 68er-Generation: Das war schon eine Befreiungszeit und das hat sich wieder so gewandelt; eine wirklich beängstigende Entwicklung.

Was die Rückschritte betrifft: Einige sagen, es nerve sie … Gender, Queerness, Diskriminierung. Teils kommt der Vorwurf, dass sich Leute in einer Opferrolle suhlen würden. Gibt es diesen Nebeneffekt, dass mehr Sichtbarkeit, mehr Unterstützung in der Kultur zu solch einer Abwehrhaltung, einem Affront führt?

VB – Auf jeden Fall. Das gibt es aber in allen Bereichen: Wir hatten von Soroptimist letztes Jahr zu den Orange Days in der Kröpcke Uhr die Aktion Tabubruch zum Thema häusliche Gewalt mit der Künstlerin Kerstin Schulz, um den Frauen zu sagen: „Ihr müsst die Türen durchbrechen, ihr müsst rausgehen, ihr müsst anzeigen.“ Und da gibt es ganz viel „Oh, die schon wieder“ oder den Vorwurf, dass man das schon wieder in den Vordergrund stelle. Es gibt Menschen, die sich eh nicht länger mit einem Thema befassen wollen und können; gerade nicht mit Themen, wo sie Berührungsängste haben. In den Medien wird – wie ich finde – erfreulicherweise aber wesentlich mehr sowohl über Queerness als auch über Diskriminierung und Gewalt an Frauen gesprochen.

CW – Also mich nervt das auch kolossal, dass ich immer noch über geschlechtergerechte Sprache sprechen muss, aber es kommt ja real vor. Und wenn jetzt ein Mensch sagt: „Oh, wie nervig, plötzlich kommt es jetzt hier“, dann signalisiert mir das, dass die Person vorher wohl das Privileg hatte, sich nicht damit auseinander setzen zu müssen: Sie hatte mega Glück.

VB – Als nicht queere Person finde ich manchmal aber schwierig, dass man bestimmte Worte nicht mehr nutzen sollte. Es ist gut, über Sprache nachzudenken und sich zu fragen, wie man die Aussageansicht am besten rüberbringt. Und wenn mir jemand sagt: „So und so möchte ich adressiert werden“, dann mache ich das und finde das auch richtig so. Aber ich glaube auch, dass es bei vielen Begriffen so ist, dass es – wenn man sich vorher nicht damit befasst hat – erst einmal ein Störgefühl gibt. Und ich habe auch schon eine Diskussion erlebt, in der andere wenig zu Wort kamen und eine Gruppe wieder und wieder auf ihre Diskriminierung zurückkam …

CW – Vielleicht müssen sich Aktivist*innen so häufig und mit Vehemenz wiederholen, weil wir den NSU, NSU 2.0 und täglich Übergriffe haben. Dass man in dem gesellschaftlichen Kontext denkt, es ist wichtig, es wirklich gut zu erklären, verstehe ich total. Und wenn mir gegenüber etwa eine Schwarze Person auftritt und vielleicht in meiner Wahrnehmung eine Vehemenz hat, dann kann ich mich erstmal fragen: „Warum nehme ich denn diese Vehemenz wahr?“ Vielleicht habe ich ja eine Voreingenommenheit, was Stereotype von Dominanz angeht; vielleicht würde ich eine weiße Person, die so spricht, als gar nicht so dominant wahrnehmen, weil ich es nicht so gewohnt bin, dass eine Schwarze Person mir etwas erklärt. Das kann auch ein Effekt sein …

Gewohnt“ ist ein schönes Stichwort, um auf die Abweichung zu kommen: Andersraum – da steckt ja „anders“ drin. „Anders als die anderen“ hieß 1919 das erste deutsche Spielfilm über Homosexualität, 1957 lieferte der frühere NS-Propagandafilmer Veit Harlan ein eher reaktionäres Remake – bezeichnenderweise nun unter dem Titel „Anders als du und ich“. Hat der Begriff „anders“ nicht teils so ein Geschmäckle?

CW – Ich war bei der Namensgebung nicht dabei, glaube aber, dass es schon ein Erleben von Anderssein im Verhältnis zur Mehrheitsgesellschaft ist. Und ohne Ansatz sind ja eh alle Menschen anders. Für mich ergibt es Sinn, dass wir versuchen, im Andersraum oder im queeren Jugendzentrum wie eine kleine bessere Version der Gesellschaft zu sein. Ein kleiner Mikrokosmos, wo Dinge einen kleinen Zacken besser laufen.

VB – Ich finde das Wort mit dem „anders“ ganz interessant. Ich habe auch mal eines meiner Festivals „Anderswelten“ genannt, weil ich dachte, man will den Besucher*innen andere Dinge zeigen, als sie zu sehen gewohnt sind … um neue Sehgewohnheiten zu öffnen.

Wie blickt ihr in die Zukunft, wenn die Repräsentanz im Laufe der etwa letzten 10 Jahre merklich anwächst, die Diskriminierung aber nicht schrumpft? Muss man damit rechnen, dass sich sowas erst über 20, 30 Jahre langsam mit kommenden Generationen rauswächst aus der Gesellschaft?

CW – Also zum einen weiß ich gar nicht, ob wir uns jetzt da nur auf die letzten 10 Jahre beziehen sollten Das höre ich oft, das gesagt wird: „Wir waren in den 8oern auch schon mal freier.“ Nicht im gesetzlichen Sinne, natürlich war Homosexualität kriminalisiert, und von trans* haben die wenigstens überhaupt gesprochen … Trotzdem gab es eine empfundene Freiheit. Zum anderen steckt in der Frage ja eine Vorstellung von linearem Fortschritt. Und die teile ich nicht, es sind keine linearen Prozesse.

VB Bekanntlich erfolgen gesellschaftliche Entwicklungen immer in Wellen!

CW – Und wenn wir bewegungsgeschichtlich, auf Emanzipationsbewegungen schauen, sieht man immer, dass es nicht linear läuft. Dein Wort in Gottes Gehör, dass quasi höhere Sichtbarkeit der Themen langfristig dazu führen wird, dass die Tendenz noch weiter steigt und vor allem die Gewalt und das strukturelle Diskriminierende abnehmen. Aber ob das so kommt, wissen wir nicht. Wir müssen weiter kämpfen und streiten, dass es hoffentlich so kommt.

CK/LD

https://kulturraumregionhannover.wordpress.com/kulturraum-region-hannover/

https://www.andersraum.de/

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Stadtkinder essen: Al-Dar

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Stadtkinder essen: Al-Dar


An einer der besten Gastro-Adressen Hannovers, nämlich der Königstraße in der Innenstadt, findet man das Restaurant Al-Dar.

Der eine oder andere Bekannte war schon mal da, die Meinungen dazu fallen unterschiedlich aus. Wir – große Freunde der syrischen Küche – wollen uns unser eigenes Bild machen und reservieren einen Tisch in dem Restaurant, das auch in Bremen und Gifhorn je eine Filiale hat.

Wir betreten den Hinterhof, in dem der Eingang zum Gastraum liegt. Die Tische sind sorgfältig gedeckt, das Servicepersonal trägt zum Eindecken von Besteck und Gläsern sogar weiße Handschuhe. Im Innenhof steht ein großer Baum, der von saftigem Efeu bewuchert wird und großzügig Schatten spendet. Hier führt man uns auch zu unserem Platz. Das heiße Sommerwetter, das morgenländische Flair mit bunten Mosaikkacheln und das ganze Ambiente vermitteln Urlaubsgefühle. Schön hier!

Leider hat man uns – trotz zahlreicher anderer Möglichkeiten (laut Website finden hier bis zu 160 Personen Platz) – an den Katzentisch gesetzt. Direkt neben uns befindet sich nämlich der Eingang zu einem Lagerraum und alle paar Minuten läuft jemand hinein und wieder hinaus, bei jedem Öffnen der Tür kommt uns ein Schwall muffiger Luft entgegen. Ungeschickt.

Wir versuchen, uns davon nicht die Laune verderben zu lassen. Wir bestellen uns als Vorspeise Sambusik Jibne (7,20€). Das sind in Öl gebackene, halbmondförmige Teigtaschen, reichlich gefüllt mit Schafskäse und Kräutern, die mit Minzjoghurt gereicht werden. Die Taschen sind, wie sie sein sollten: Nämlich außen knusprig und innen cremig mit einer Füllung, die so heiß ist, dass man sich den Schnabel daran verbrennt, wenn man nicht aufpasst. Sehr gut!

Für den Hauptgang entscheiden wir uns für Daharrat (gegrilltes Lammrückenfilet mit Spinat, Safransauce und Reis, 25,50€). Außerdem möchten wir wissen, was für Wunderfalafel das sein mögen, wenn sie den stolzen Preis von 15,90€ rechtfertigen wollen und bestellen sie.

Allem voran: Die Safransauce ist ein Gedicht. Das nicht ohne Grund teuerste Gewürz der Welt wurde hier toll dosiert – nur ein Fädchen zu viel und es würde bitter, eins zu wenig und es fehlte an Geschmack. Aber nicht hier! Auch der Reis, der mit angebratenen Reisnudeln gemischt ist, schmeckt buttrig und fluffig. Der Spinat als solcher ist eher ereignislos. Das Lammfleisch, sehr gut gewürzt, finden wir aber leider teilweise übergart und zäh.

Die Falafel, die auf einem Salatbett ruhen, werden mit Hummus gereicht. Der schmeckt tatsächlich ausgezeichnet, das Verhältnis von Kichererbse, Sesam und Säure ist fein ausgewogen, das Mus wurde offenbar noch durch ein Sieb gestrichen, es ist sehr cremig. Die Kichererbsenbällchen sind gut; sie erinnern an die, die man auf der EXPO 2000 kaufen konnte, zu Zeiten, in denen es noch nicht an jeder Ecke einen Falafelimbiss gab.

Unser Fazit fällt also einigermaßen ernüchternd aus, aber auf eine Sache möchten wir unbedingt hinweisen: Das Al-Dar bietet eine große Wein- und Champagnerauswahl der besonderen Art, ein önologisches Feuerwerk mit besten Trauben aus dem Libanon. In diesem Ambiente dürfte ein Abend mit Freunden und gutem Wein und gemischten Mazza-Platten ein großartiges Erlebnis sein.

Al-Dar
Königstraße 3
30175 Hannover

Tel. 0511 – 898 499 4
hannover@aldar.de
https://aldar.de/hannover/

Öffnungszeiten:
Mo.-Fr.: ab 17 Uhr
Sa.&So.: ab 12 Uhr

IH

Fotos Gero Drnek

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Kulturperlen: Moksh Yoga Festival 26. -27-08.2023

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Kulturperlen: Moksh Yoga Festival 26. -27-08.2023


AUS UNSEREN KULTURPERLEN IM AUGUST:

„Dieses Yoga-Festival ist einzigartig, die Eröffnungs- und Abschlusszeremonien sind einmalig, das Programm ist vielseitig, abwechslungsreich und für alle Teilnehmer*innen geeignet.“

Ein ganzes Wochenende heißt es Ende August „inhale, exhale and meet yourself!“ im Zentrum für Hochschulsport, am Moritzwinkel.
Bei Pranayama & Surya Namaskar über Dynamic Hatha bis hin zu Shakti Dance und Gong Relaxation oder einem Ayurveda Seminar können Körper und Geist in Einklang gebracht werden.
Im Ticket inklusive ist ein leckeres vegetarisches Mittagessen sowie auch später Tee und Snacks.
Auch das Singen und Ausklingen am Abend ist ein Highlight in herzlich wohliger Atmosphäre.

Mit dem Besuch des Moksh Yoga Festivals unterstützt man zudem ein Wasserprojekt in Samatra in West-Afrika. Alle Überschüsse werden zu 100 Prozent gespendet.

Moksha stammt aus dem Sanskrit und steht für Befreiung.

Ort:
Zentrum für Hochschulsport Hannover, Am Moritzwinkel 6.
Datum:
26. und 27.08.2023

Tickets und Infos auf www.mokshyoga-festival.com.
https://www.facebook.com/profile.php?id=100084277957647

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Ein offener Brief an Olaf Scholz

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Ein offener Brief an Olaf Scholz


Lieber Olaf,

kurz vor der Sommerpause noch schnell ein großes Dankeschön von unserer Seite. Wir geben zu, wir waren ein bisschen beunruhigt. Wegen dem Krieg und der Inflation und der wirtschaftlichen Entwicklung und dem Eindruck, dass sich die Ampel die ganze Zeit nur fetzt und gerade jetzt, wo es darum geht, mal ein bisschen in die Zukunft zu planen, völlig versagt. Wir hatten sogar gelegentlich schlaflose Nächte.

Aber dann hast du das große Sommerinterview gegeben und uns ist echt ein Findling vom Herzen gefallen. Alles ist gut! Wir sind so unfassbar erleichtert. Die Ampel streitet sich gar nicht, man führt nur notwendige, ernsthafte, sachorientierte, seriöse Diskussionen und geht ansonsten sehr vertrauensvoll und freundschaftlich miteinander um. Das Menschliche funktioniert. Und auch das neue Heizungsgesetz funktioniert. Es ist sozial total vorbildlich ausgewogen. Dass auch Villenbesitzer unterm Strich genauso gefördert werden wie alle anderen, ist gar kein Problem, weil es gar kein Problem ist. Und das Gesetz ist nach all den Änderungen immer noch total super für gegen den Klimawandel, weil es total super ist für gegen den Klimawandel. Klasse!

Wäre ja auch zu schade gewesen, wenn nach all der Aufregung das Gesetz nur noch eine Farce wäre und man zum Beispiel vor 2030 munter weiter Ölheizungen einbauen könnte, was man zwar kann, was aber nicht schlimm ist, weil das so kompliziert verpackt ist, dass es ohnehin niemand versteht. Und dann auch niemand macht. Womit die Klimaziele erreicht werden. Also alles gut. Auch beim Ausbau von Windrädern. Das wird demnächst schneller und schneller gehen, gar keine Frage. Mit dem neuen Deutschlandtempo. Und Expert*innen, die das Gegenteil behaupten, sind keine Expert*innen. Und wenn man lange genug mit denen diskutiert, sehen die das irgendwann auch ein.

Darum auch die Diskussionen innerhalb der Koalition. Um die Expert*innen, aber auch die Bürger*innen mitzunehmen. Um allen zu zeigen, dass man um die besten Lösungen streitet. Um das transparent zu machen, nachvollziehbar für die Bevölkerung, dafür braucht es die öffentliche Auseinandersetzung. Und eben keine Machtwörter, die solche Prozesse im Keim ersticken würden. Es braucht keinen kompromisslosen John Wayne, sondern einen grübelnden, nachdenklichen Olaf, der die Dinge sachlich durchmoderiert und dabei freundlich und entspannt bleibt. Übrigens auch im Umgang mit anderen Staatenlenkern. Der Macron scheint ja sogar fast so etwas wie ein Fan von dir zu sein. So eng, so gut die Freundschaft, da passt kein Blatt Papier dazwischen. Sehr gut! Da wurde ja auch gemunkelt, dass es hinter den Kulissen ein bisschen kracht. Ausgeräumt. Stark!

Und noch ein großes Glück: Die AfD ist nur eine Schlechte-Laune-Partei. Da ist uns gleich noch einmal ein veritabler Findling vom Herzen gefallen. Wenn die nur eine Schlechte-Laune-Partei sind, dann ist das alles ja eher niedlich als bedrohlich. Denen ist nur die eine oder andere Laus über die Leber gelaufen. Alles nur halb so schlimm. Gott sei Dank! Wir hatten schon gedacht, da wären echte Nazis unterwegs, die wirklich Böses im Schilde führen. Aber wenn die nur schlechte Laune haben, dann ist es tatsächlich auch gar kein Problem, dass die AfD in Umfragen jetzt vor der SPD liegt. Wenn es nur nach der schlechten Laune geht, da gibt es ja Tage, da würden wir am Telefon bei einer Umfrage vielleicht auch mal ein bisschen die schlechte Stimmung rauslassen. Ist ja nur Spaß, in Wirklichkeit. Und darum gehen diese 20 Prozent demnächst auch ganz bestimmt wieder von allein weg. Spätestens wenn alle endlich begreifen, was die Ampel für eine großartige Arbeit leistet. Klar, das muss man den Menschen noch ein bisschen erklären, rund 80 Prozent sind momentan mit der Ampel nicht zufrieden, es braucht noch viele öffentliche Diskussionen. Aber zur nächsten Wahl ist ja noch reichlich Zeit. Das wird sich schon noch zurechtruckeln, wenn es erst mit jedem Tag im neuen Deutschlandtempo weiter vorangeht, und wir alle gemeinsam, auch dank dir und deiner klugen, besonnenen Art, das nächste Wirtschaftswunder erleben. Blühende Landschaften. Jetzt kann der Sommer wirklich kommen.
Danke, Olaf!

VA

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El Kurdis Kolumne im August

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El Kurdis Kolumne im August


Meine zahlenmystische Jubiläumskolumne

Bei Lesungen stelle ich mich manchmal folgendermaßen vor: „Hallo, mein Name ist Hartmut El Kurdi und ich lebe in Hannover. An meinem Nachnamen ‚El Kurdi‘ erkennt man aber, dass ich kein richtiger Niedersachse bin … sondern Hesse.“ Ist das Publikum mir wohlgesonnen, lacht es dann freundlich. Sicher, ich weiß, dass das ein etwas einfach gebauter Scherz ist. Vielleicht aber auch nicht. Denn wie bei so vielen Witzen ist nicht ganz klar, warum man lacht. Rein technisch? Also nur, weil man von der Pointe überrascht ist? Oder weil man sich selbst in einem gewissen stereotypen Denken ertappt fühlt? Vielleicht auch über die Vorstellung, dass ausgerechnet ‚El Kurdi‘ ein prototypischer hessischer Name sein könnte?

Egal, Tatsache ist: Ich bin zwar nicht in Hessen geboren, sondern in Jordanien, aber ich bin zu großen Teilen im „Mittelsten“ aller Bundesländer, zwischen Fulda, Rhön und Odenwald aufgewachsen; meine Mutter ist eine Urhessin aus dem Vogelsberg und sprach zu Hause nur Dialekt – den sie konsequenterweise als Muttersprache an mich weitergab. Und tatsächlich fühle ich mich dem Hessischen kulturell immer noch verbunden: Ich schaue erschütternd oft das dritte Programm des Hessischen Rundfunks und treibe mich immer wieder auf peinlich-nostalgischen Kassel-Facebook-Seiten herum. Manchmal kaufe ich mir sogar in der Markthalle hessische Spezialitäten … Das Absurde ist allerdings, dass ich nur knapp 18 Jahre in Hessen gelebt habe. Und inzwischen 36 Jahre, also genau doppelt so lange, in Niedersachsen wohne. Das allein wäre schon Grund für eine kleine Gedenkfeier. Aber es kommt noch gedenkwürdiger. Am 1. August 2009, also vor genau 14 Jahren, bin ich nach Hannover gezogen – nachdem ich zuvor exakt 14 Jahre in Braunschweig gewohnt hatte. Wenn Sie diese Kolumne lesen, habe ich also genauso lange in Hannover gelebt wie in Braunschweig! Die restlichen acht Jahre Niedersachsen verbrachte ich übrigens in Hildesheim. Ganz am Anfang. Als Irgendwas-mit-Kultur-Bummelstudent.

Doch zurück zu meinem 14/14-Jubiläum: Keine Angst, ich gehe jetzt nicht auf diesen Braunschweig/Hannover/Eintracht/96-Quatsch ein. Wobei ich das Gefühl habe, dass dieser künstliche Konflikt in Braunschweig eine größere Rolle spielt als hier. Dort erzähle ich deswegen gerne mal die Anekdote des von mir verehrten Übersetzers und Kolumnisten Harry Rowohlt über Hamburg und Bremen: Rowohlts Vater Ernst, Gründer des Rowohlt Verlages, war gebürtiger Bremer, lebte aber schon seit Jahrzehnten in Hamburg. Irgendwann wurde er zu einem offiziellen Essen in Bremen eingeladen und saß dort mit bremischen Honoratioren an einem Tisch. Die lästerten die ganze Zeit in seiner Anwesenheit über Hamburg. Schließlich beugte sich Rowohlt zu den Lästerern hinüber und sagte in naiv gespieltem Ton: „Ich weiß gar nicht, warum Sie so schlecht über Hamburg reden. Wir in Hamburg reden gar nicht über Bremen.“

Neulich dachte ich darüber nach, ob es jetzt – nach 14 Jahren Braunschweig und 14 Jahren Hannover – nicht mal wieder Zeit für einen Umzug wäre. Aber tatsächlich fiel mir kein Ort ein, wo ich zurzeit lieber lebte als hier. Ohne dass ich in albernes lokalpatriotisches Gejohle verfiele, und auch wenn Hannover sicher nicht die schönste oder aufregendste Stadt Deutschlands ist: Ich mag es hier. Ich fühle mich hier wohl. Punkt. Obwohl mir in Leser*innenbriefen oder Social-Media-Kommentaren immer mal wieder nahegelegt wird – wie es so vielen in der Öffentlichkeit stehenden Menschen mit ausländischen Wurzeln in ganz Deutschland regelmäßig passiert –, ich solle doch gefälligst dorthin gehen, wo ich herkomme. Und damit ist meist nicht Kassel, Hessen oder Braunschweig gemeint.

Ich gestehe, ich habe als Mensch mit diversen Herkünften und zwei Pässen, der als Kind zeitweise zwischen drei Ländern und zwei Kontinenten hin und her pendelte, wenn auch kein Bedürfnis nach „Heimat“ (weil das ein zu oft missbrauchtes Wort ist), so aber doch den Wunsch nach einem Zuhause. Nach meinem Wegzug aus Braunschweig hatte ich – „aus Gründen“ – eigentlich aufgegeben, ein solches zu finden. Auch jetzt bin ich mir nicht sicher. Aber erst mal bin ich hier. Und gehe so schnell auch nicht mehr weg. Und das fühlt sich gut an.

PS: Ich feiere übrigens 2023 noch ein weiteres, in diesem Fall sogar halbwegs rundes Jubiläum. Da ich schon ein Jahr vor meinem Umzug nach Hannover anfing, für das Stadtkind zu schreiben, existiert diese Kolumne nun tatsächlich bereits seit 15 Jahren. Darauf einen Äppelwoi!

Hartmut El Kurdi

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